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21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

10. bis 12.09.2004, Freiburg/Breisgau

Vergleichende anatomische und funktionelle Betrachtungen am suinen und humanen Larynx

Vortrag

  • author presenting/speaker Oliver Goldschmidt - Universitätsklinikum Aachen, Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen, Aachen, Deutschland
  • author Andreas Prescher - Universitätsklinikum Aachen, Institut für Anatomie I, Aachen, Deutschland
  • author Christiane Neuschaefer-Rube - Universitätsklinikum Aachen, Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen, Aachen, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Freiburg/Breisgau, 10.-12.09.2004. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2004. Doc04dgppV01

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2004/04dgpp01.shtml

Veröffentlicht: 9. September 2004

© 2004 Goldschmidt et al.
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Zusammenfassung

Die Entwicklung der Atem- und Stimmorgane hat von den ersten Säugetieren bis zum Homo sapiens eine Differenzierung zum lautsprachlich und kommunikativ einsetzbaren Stimmapparat erfahren. Die Entwicklung des laryngealen und supralaryngealen Systems wurde stark durch den aufrechten Gang und die zunehmende Leistungsfähigkeit der Hände beeinflusst. Beim menschlichen Neugeborenen dient der obere Aerodigestivtrakt wie bei unseren phylogenetischen Vorfahren primär der Nahrungsaufnahme und der Sicherstellung der Atmung. Im Vergleich zu den uns am nächsten verwandten Säugetieren zeigt sich beim Homo sapiens mit seinen Fähigkeiten zur lautsprachlichen Äußerung als ein wesentliches Merkmal neben dem Körperwachstum ein Absinken des Larynx aus dem Mundraum in den Schlund. Die Larynxposition und die Form des Schädels beim menschlichen Neugeborenen sind am ehesten mit den Primaten vergleichbar. Die Larynxentwicklung lässt sich auch vergleichend am Modell der uns aus biologischer Sicht nahe stehenden Schweine erläutern. Dabei scheinen beim suinen Larynx die Strukturen und die Biomechanik des Aryknorpelgelenkes und der Interarytaenoidregion ähnlich wie bei den Patienten zu sein, die eine so genannte atavistische Larynxform haben. Wir haben Bildmaterial zusammengestellt, das den Vergleich anatomischer Strukturen des suinen und des humanen Kehlkopfes ermöglicht. Die für die menschliche Sprache und die suine Lautbildung physiologischen und anatomischen Voraussetzungen werden dargestellt.


Text

Die Entwicklung der Atem- und Stimmorgane hat von den ersten Säugetieren bis zum Homo sapiens eine Differenzierung zum lautsprachlich und kommunikativ einsetzbaren Stimmapparat erfahren. Die Entwicklung des laryngealen und supralaryngealen Systems wurde stark durch den aufrechten Gang und die zunehmende Leistungsfähigkeit der Hände beeinflusst (Korpiun). Nach Laitman 1993 [9] konnten unsere frühen hominiden Vorfahren noch gleichzeitig schlucken und atmen. Mit dem Verlust dieser Fähigkeit kam allerdings der Vorteil, supralaryngeale Teile des Rachens zur Lautmodifikation einzusetzen. Im Vergleich zu den uns am nächsten verwandten Säugetieren zeigt sich beim Homo sapiens mit seinen Fähigkeiten zur lautsprachlichen Äußerung in den letzten 300.000 Jahren als ein wesentliches Merkmal neben dem Körperwachstum ein Absinken des Larynx aus dem Mundraum in den Schlund [8]. Die heutigen anatomischen Ausprägungen des menschlichen Stimmapparates haben sich vermutlich bis vor circa 100.000 Jahren entwickelt [10]. Neuere Studien konnten allerdings inzwischen mittels bildgebender Verfahren auch einen laryngealen Deszensus bei den non-humanen Primaten und anderen Säugetieren im Verlauf ihres Wachstums und bei der Lautbildung nachweisen [12], [15].

Die Larynxposition und die Form des Schädels beim menschlichen Neugeborenen sind noch am ehesten mit den Primaten vergleichbar. Beim menschlichen Neugeborenen dient der obere Aerodigestivtrakt wie bei unseren phylogenetischen Vorfahren primär der Nahrungsaufnahme und der Sicherstellung der Atmung. Bei den menschlichen Neugeborenen kommt es wie in der Tierwelt durch den laryngealen Hochstand zur Ausbildung eines geschlossenen Luftweges durch das Überlappen von Gaumensegel und Epiglottis, was wiederum die Mundatmung nahezu unmöglich macht. Nahrung kann dann seitlich entlang des hochgestellten Larynx in den Ösophagus passieren [6], [7].

Der menschliche Larynx stellt aus aerodynamischer Sicht eine Düse dar, mit der Möglichkeit als Druckminderungsventil für die Lunge und als Beschleuniger des Luftstroms zur effektiveren Anregung der Stimmlippen zu fungieren. Bei den Primaten und auch beim Schwein sind die laryngealen Strukturen eher als weite, widerstandsfreie Durchgänge zur Effizienzsteigerung bei der Atmung zu erkennen. Die vorhandenen Resonanzräume ermöglichen allerdings den Tieren eine für die differenzierte Sprache unpräzise, wenn auch zum Teil durchaus kraftvolle Lautbildung. Eine entscheidende Rolle spielen dabei auch die fehlenden supralaryngealen Fähigkeiten (z.B. Artikulation) [3].

Neben der anatomischen Beschaffenheit des Larynx ist die Fähigkeit, Sprechen zu lernen, allerdings auch an die Entwicklung des Gehirns (neocortex, laryngeal area) gebunden, non-verbale Lautbildungen sind davon unabhängig [4], [5]. Diesbezüglich hob Passingham 1981 [13] die Bedeutung des motorischen Sprachareals von Broca im Neocortex hervor, das z.B. bei den Schimpansen nicht in gleicher Form nachzuweisen ist. Deswegen wäre es einem Menschen mit den anatomischen Strukturen des oberen Aerodigestivtraktes eines Schimpansen durchaus möglich in gewohnter Form zu kommunizieren, da die neuronalen und cortikalen Voraussetzungen gegeben wären. Dagegen führen Ausfälle vergleichbarer cortikaler Steuereinheiten beim Menschen zur Aphasie, währenddessen bei den non-humanen Primaten dysphagische Beschwerden, aber keine Phonationsstörungen auffielen [2].

Jiang betonte 2001 [1], dass der suine Larynx ein besseres phonatorisches Modell abgebe, als der in der Forschung früher oft untersuchte Hundelarynx. Der suine Larynx zeigt ein großes Vestibulum sowie mächtige laterale und mittlere Ventrikel, die zu einer caudalen Verengung führen [14]. Dabei scheint beim suinen Larynx die Morphologie der Interarytaenoidregion ähnlich wie bei den Patienten zu sein, die eine sogenannte atavistische Larynxform haben [Abb. 1], [Abb. 2]. Da dieser Bezeichnung jedoch keine exakte Definition zukommt, stellten wir uns die Aufgabe, diese Entität vergleichend-anatomisch abzusichern. Die Untersuchungen suiner und humaner Kehlkopfstrukturen ergaben in Übereinstimmung mit der veterinär-anatomischen Literatur (z.B. [11]) folgende Resultate: Im Bereich des Ringknorpels können zwischen Mensch und Schwein keine nennenswerten Unterschiede erhoben werden. Der Aryknorpel zeigt beim Schwein komplizierte räumliche Verhältnisse, weist jedoch das gleiche Bauprinzip wie beim Menschen auf. Die Hornfortsätze der Aryknorpel sind mächtig entwickelte, schaufelförmige Gebilde, die dorsal in der Mittellinie miteinander verschmelzen. Die bei Homo sapiens nur sehr selten zu beobachtende Cartilago interarytaenoidea Luschka wird beim Schwein, wie auch beim Hund, regelmäßig gefunden und verbindet die Aryknorpel etwas oberhalb der Ringknorpelhinterkante. Eine wichtige Stellung nimmt die Cartilago cuneiformis Wrisberg ein, die beim Menschen als dorsal konvexes stabförmiges Knorpelgebilde in die aryepiglottische Falte eingelagert ist und als Abspaltung der Epiglottis aufgefasst wird. Dieser Knorpel wird beim Schwein nicht beobachtet, da die Epiglottis den Kehlkopfeingang auch lateral umfasst. Bei humanen Kehlköpfen mit ausgeprägter Schleimhaut- und Drüsen-Atrophie scheint der Keilknorpel prominent durch die ausgedünnte Schleimhaut hindurch und erzeugt dadurch eine oberflächliche Ähnlichkeit mit dem mächtig entwickelten Processus corniculatus beim Schwein.

Zusammenfassend stellen wir fest, dass die in solchen Fällen oft verwendete Bezeichnung "atavistische Kehlkopfform" einer vergleichend-anatomischen Grundlage entbehrt und eher als das Resultat einer pathologischen Atrophie regulärer Strukturen zu sehen ist. Die Epiglottis zeigt jedoch beim Schwein regelmäßig eine angedeutet eingerollte Form (sogenannte Omega-Form), die beim Menschen nur hin und wieder beobachtet wird (sog. suffokatorische Epiglottisform der älteren Literatur). Diese scheint jedoch keine funktionelle Bedeutung zu haben.


Literatur

1.
Jiang JJ, Raviv JR, Hanson DG: Comparison of the phonation-related structures among pig, dog, white-tailed deer, and human larynges. Ann Otol Rhinol Laryngol. 2001; 110 (12): 1120-5
2.
Jürgens U, Kirzinger A, von Cramon D: The effects of deep-reaching lesions in the cortical face area on phonation. A combined case report and experimental monkey study. Cortex 1982; 18 (1): 125-39
3.
Jürgens U, Ploog D: [On the evolution of voice (author's transl)]. Arch Psychiatr Nervenkr. 1976; 222 (2-3): 117-37
4.
Jürgens U, Zwirner P: Individual hemispheric asymmetry in vocal fold control of the squirrel monkey. Behav Brain Res. 2000; 109 (2): 213-7
5.
Jürgens U: Neuronal control of mammalian vocalization, with special reference to the squirrel monkey. Naturwissenschaften 1998; 85 (8): 376-88
6.
Korpiun C: Entwicklung und Arbeitsweise des Kehlkopfes. http://www.uni-essen.de/sesam/physiologie/anatomie/kehlkopf.html
7.
Korpiun C: Entwicklung und Arbeitsweise des Supralaryngalen Systems. http://www.uni-essen.de/sesam/physiologie/anatomie/supralaryngaltrakt.html
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Laitman JT, Heimbuch RC: The basicranium of Plio-Pleistocene hominids as an indicator of their upper respiratory systems. Am J Phys Anthropol. 1982; 59 (3): 323-43
9.
Laitman JT, Reidenberg JS: Specializations of the human upper respiratory and upper digestive systems as seen through comparative and developmental anatomy. Dysphagia 1993; 8 (4): 318-25
10.
Lieberman P: Uniquely Human: The Evolution of Speech, Thought, and Selfless Behavior. Cambridge, Harvard University Press (1991)
11.
Nickel R, Schummer A, Seiferle E, Frewein J, Gasse H, Leiser R: Lehrbuch der Anatomie der Haustiere Bd. 2 Eingeweide. Parey-Verlag Stuttgart 2004
12.
Nishimura T, Mikami A, Suzuki J, Matsuzawa T: Descent of the larynx in chimpanzee infants. Proc Natl Acad Sci USA, 2003; 100 (12): 6930-3. Epub 2003 May 29
13.
Passingham, RE: Broca's area and the origins of human vocal skill. Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci 1981; 292 (1057): 167-75
14.
Swindle MM, Smith AC: Information Resources on Swine in Biomedical Research 1990-2000. AWIC Resource Series No. 11, 2000: http://www.nal.usda.gov/awic/pubs/swine/swine.htm#art
15.
Tecumseh Fitch W: The phonetic potential of nonhuman vocal tracts: comparative cineradiographic observations of vocalizing animals. Phonetica 2000, 57 (2-4): 205-18