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20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12. bis 14.09.2003, Rostock

Der produktive Wortschatz in der frühen Kindheit in Abhängigkeit von sozialen Einflussgrößen

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  • corresponding author Christiane Kiese-Himmel - Abteilung Phoniatrie u. Pädaudiologie, Universitäts-Klinikum, Georg-August-Universität Göttingen, Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen, Tel. 0551 / 392811; Fax 0551 / 392812
  • Ann-Katrin Bockmann - Abteilung Phoniatrie u. Pädaudiologie, Universitäts-Klinikum, Georg-August-Universität Göttingen, Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen, Tel. 0551 / 392811; Fax 0551 / 392812

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Rostock, 12.-14.09.2003. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2003. DocP31

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2003/03dgpp072.shtml

Veröffentlicht: 12. September 2003

© 2003 Kiese-Himmel et al.
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Zusammenfassung

Anliegen war es, den Umfang des produktiven Wortschatzes junger Kinder in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht sowie von versch. sozialen Variationsquellen (Geschwisterstatus, -position, Wohnort, Schulabschluss sowie Berufstätigkeit der Mutter, Fremdbetreuung) empirisch zu überprüfen. Methode: Der expressive Wortschatz wurde im Querschnitt mit einem Elternteil gem. des z. Zt. noch experimentellen "Elternfragebogens zur Wortschatzentwicklung in der frühen Kindheit" erhoben [1]. Stichprobe: 186 reif geborene, nicht-behinderte, monolingual (deutsch) aufwachsende Kinder im Alter von 16 bis 26 Monaten aus versch. Bundesländern. Ergebnisse: Mädchen hatten im Durchschnitt ein signifikant größeres produktives Vokabular als Jungen dasselbe galt für Stadtkinder im Vergleich zu Kindern aus eher ländlichen bzw. kleinstädtischen Regionen. Die anderen Gruppenvergleiche zeigten z.T. deutliche Unterschiede, ohne jedoch statistische Signifikanz zu erlangen. Lebensalter und Wortschatz korrelieren stark positiv. Fazit: Soziale Faktoren scheinen die frühe lexikalische Entwicklung gegenüber biologischen (Alter, Geschlecht) vergleichsweise geringer zu bestimmen.


Text

Einleitung

Die soziale Umwelt leistet einen wesentlichen Beitrag in der Ausgestaltung der genetisch determinierten Anlage zum Erwerb der Muttersprache, weil sie mit verschiedenen Sprachumwelten (Sprachlernressourcen) verbunden ist. Ein Kind erlernt Sprache über die Sprachmodelle seiner Umwelt bzw. deren Anregungspotential. Der Wortschatzerwerb als instrumentelle Basis der Sprachentwicklung stellt hierbei eine große Lernanforderung dar. Wortschatzumfang und syntaktische Entwicklung stehen in enger Beziehung [2], denn ohne ein Lexikon von 50 Wörtern kommt ein Kind nicht in die Satzentwicklung. Untersucht wurde der Umfang des produktiven Wortschatzes junger, normalgesunder Kinder in Abhängigkeit von Lebensalter, Geschlecht, Geschwisterstatus, Geschwisterposition, Wohnortgröße, Schulabschluss der Mutter, Berufstätigkeit der Mutter, institutioneller Kinderbetreuung (Krabbelgruppe).

Stichprobe

Das Studienkollektiv bestand aus 186 reif geborenen, deutschsprachig aufwachsenden Kindern im Alter von 16 bis 26 Monaten aus den Bundesländern Niedersachsen (n=81), Schleswig-Holstein (n=69), Bayern (n=31), Hamburg (n=4), Bremen (n=1). Das durchschnittliche Lebensalter (LA) der 96 Jungen und 90 Mädchen betrug 20.7 (SD 3.1) Monate.

Methode

Eine primäre Bezugsperson eines Kindes gab dessen Wortgebrauch mit dem "Elternfragebogen zur Wortschatzentwicklung in der frühen Kindheit" an - ein systematisches, nach entwicklungspsycholinguistischen Gesichtspunkten strukturiertes Explorationsinstrument [1]. In einem Elternprotokoll wurden von ihr weitere vom Kind gesprochene Wörter aufgelistet.

Ergebnisse

Die Kinder hatten gem. Elternfragebogen einen produktiven Wortschatz von durchschnittlich 92 (SD 80) Wörtern (Min 0, Max 250). Der lexikalische Umfang insgesamt (= Elternfragebogen + Elternprotokoll) bestand durchschnittlich aus 99 (SD 90) Wörtern (Min 0, Max 434).

Mädchen hatten im Durchschnitt ein signifikant größeres expressives Vokabular als Jungen. Dasselbe traf für Stadtkinder im Vergleich zu Kindern, die in Wohnorten mit <10.000 Einwohnern lebten, zu. Einzelkinder und Geschwisterkinder hatten eine im Durchschnitt nahezu identische expressive Wortschatzgröße, wobei die Geschwisterkinder im Mittel knapp einen ¾ Monat älter waren (was den sprachlichen Zuwendungsvorteil der Einzelkinder kompensiert haben könnte). Auch die übrigen Gruppenvergleiche zeigten Unterschiede im Wortschatzumfang, ohne jedoch statistische Signifikanz zu erlangen. Eine Konfundierung mit dem Geschlecht ist weitgehend auszuschließen, nur unter den Erstgeborenen sowie den Krabbelgruppenkindern waren mehr Mädchen.

Erstgeborene Kinder, die in ihrer biografischen Entwicklung für eine gewisse Zeit einen Einzelkindstatus hatten, gebrauchten im jungen Alter durchschnittlich mehr verschiedene Wörter als Spätergeborene (n.s.).

Kinder von Müttern mit höherem Schulabschluss (Fachhochschulreife, Abitur) verfügten durchschnittlich über einen umfangreicheren produktiven Wortschatz als Kinder von Müttern ohne bzw. mit Hauptschulabschluss oder mit mittlerer Reife (n.s.). Allerdings waren unter ihnen mehr Stadtkinder (75%), während 65% der Kinder von Müttern mit fehlendem bzw. niedrigerem Schulabschluss in Wohnorten mit <10.000 Einwohnern aufwuchsen. Kinder berufstätiger Mütter hatten durchschnittlich ein umfangreicheres expressives Lexikon als Kinder nicht berufstätiger Mütter (n.s.), die wiederum im Durchschnitt 0.4 Monate jünger waren.

Kinder, die eine Krabbelgruppe besuchten, besaßen im Durchschnitt einen größeren produktiven Wortschatz (n.s.) als solche, die keine solche Betreuung erfuhren; doch nur ein Drittel des Kollektivs besuchte keine Krabbelgruppe.

Es ließen sich keine ausgeprägten und signifikanten Korrelationen zwischen Wortschatzumfang und den untersuchten sozialen Variablen feststellen; der höchste Korrelationskoeffizient belief sich auf r=0.16 [Krabbelgruppe]. Nur das Lebensalter korrelierte stark positiv mit dem produktiven Wortschatzumfang: r=0.70 (Summe Wörter gem. Fragebogen; p<.0001) sowie r=0.69 (Summe Wörter gem. Elternfragebogen + Elternprotokoll; p<.0001).

Die betrachteten Variablen stehen offensichtlich in bestimmten Konstellationen in Wechselwirkung. Um dem Rechnung zu tragen, wurde eine multivariate Statistik durchgeführt. Die multiple Regressionsanalyse wies

·Alter (p<.0001),

·Geschlecht (p=0.0001) sowie

·Schulabschluss der Mutter (p=0.029)

als prädiktive Faktoren statistisch signifikant für den produktiven Wortschatzumfang im Elternfragebogen aus.

Der produktive Wortschatzumfang insgesamt (= Elternfragebogen + Elternprotokoll) wird signifikant durch Alter (p<0.0001) sowie Geschlecht (p=0.002) vorhergesagt. Die Variable Wohnort verfehlt die Signifikanz knapp (p=0.052).

Diskussion

Zur Vorhersage des produktiven Wortschatzumfangs waren Faktoren aus dem sozialen Kontext vergleichsweise weniger bedeutsam als Lebensalter und Geschlecht eines Kindes.

Die starke Korrelation von Wortschatz und Lebensalter demonstriert den signifikanten Effekt des Alters auf die lexikalische Entwicklung. Die in der Literatur bereits beschriebene Überlegenheit junger Mädchen im Wortschatzumfang (z.B. [3], [4], [5], [6], [7]) konnte hiermit für deutsche Kinder bestätigt werden. Der lexikalische Entwicklungsvorsprung ist vermutlich auf geschlechtsbedingte Reifungs- bzw. neurobiologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern zurückzuführen, wenngleich unterschiedlich geschlechtsspezifische Sozialisationsprozesse nicht auszuschließen sind, indem Mädchen z. B. stärker verbal angeregt und angesprochen werden.

Die adäquate Versorgung junger Kinder mit einem optimalen Sprachinput zur Ausbildung eines produktiven Wortschatzes ist nicht zuletzt aber auch vom Bildungsstand der Mutter abhängig gewesen; ein niedriger Bildungsabschluss ist als potentieller Vulnerabilitätsfaktor zu bewerten.

Neu ist der Sachverhalt, dass Kinder aus Wohnorten mit >10.000 Einwohnern in ihrem lexikalischen Umfang denen aus kleineren Orten überlegen waren. Die stundenweise Betreuung junger Kinder in einer Krabbelgruppe führte vermutlich durch die zusätzliche sprachliche Stimulation zu einem Zuwachs im expressiven Lexikon.

Fazit

Anlagebedingte Faktoren wie auch unterschiedliche Sozialisationsprozesse tragen in komplexen Wechselwirkungen zu Geschlechtsdifferenzen im lexikalischen Umfang bei.


Literatur

1.
Bockmann AK & Kiese-Himmel C (in Vorbereitung). Elternfragebogen zur Wortschatzentwicklung in der frühen Kindheit. Göttingen: Hogrefe
2.
Huttenlocher J (1998). Language input and language growth. Prev Med 27: 195-198
3.
Hyde JS & Linn MC (1988). Gender differences in verbal ability: a meta-analysis. Psych Bull 104: 53-69
4.
Rescorla L (1989). The language development survey: A screening tool for delayed language in toddlers. J Speech Hear Dis 54: 587-599
5.
Fenson L, Dale PS, Reznick JS, Bates E, Thal D & Pethick JS (1994). Variability in early communicative development. Monographs of the Society for Research in Child Development, Serialno. 242
6.
Bornstein MH & Haynes OM (1998). Vocabulary competence in early childhood: Measurement, latent construct, and predictive validity. Child Dev 69: 654-671
7.
Bornstein MH, Haynes OM, Painter KM & Genevro JL (2000). Child language with mother and with stranger at home and in the laboratory: A methodological study. J Child Lang 27: 407-420