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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Claudia Witt (Hrsg): Der gute Arzt aus interdisziplinärer Sicht – Ergebnisse eines Expertentreffens

Buchbesprechung Humanmedizin

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  • corresponding author Götz Fabry - Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Abteilung für Medizinische Psychologie und Soziologie, Freiburg, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2011;28(3):Doc37

doi: 10.3205/zma000749, urn:nbn:de:0183-zma0007490

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2011-28/zma000749.shtml

Eingereicht: 16. Dezember 2010
Überarbeitet: 2. Mai 2011
Angenommen: 24. Mai 2011
Veröffentlicht: 8. August 2011

© 2011 Fabry.
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Bibliographische Angaben

Claudia Witt

Der gute Arzt aus interdisziplinärer Sicht. Ergebnisse eines Expertentreffens

KVC Verlag (Karl und Veronica Carstens Stiftung), Essen

Erscheinungsjahr: 2010, € 19,80, 257 Seiten

ISBN 978-3-86864-001-54


Rezension

Die Frage, was ein guter Arzt ist, ist so drängend wie schwierig zugleich. Drängend ist sie deshalb, weil ohne eine zumindest annäherungsweise Antwort auch nicht geklärt werden kann, wie man einen guten Arzt ausbildet. Dieser Aspekt ist vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um den Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM) einmal mehr besonders wichtig. Als schwierig anzusehen ist die Frage deshalb, weil trotz zahlreicher und wiederholter Versuche, das Konstrukt des guten Arztes zu konkretisieren, die Diskussion unvermindert andauert. Insofern dürfen auch von dem hier besprochenen Band keine endgültigen Antworten erwartet werden. Er dokumentiert ein Expertentreffen, das 2009 auf Initiative von Claudia Witt, Inhaberin der Stiftungsprofessur (Carstens-Stiftung) für Komplementärmedizin an der Charité in Berlin, stattgefunden hat.

Der Band ist in fünf inhaltliche Schwerpunkte gegliedert, die sich dem Thema mit jeweils unterschiedlichem Auflösungsgrad nähern, so dass detaillierte Diskussionen etwa zur Empathie, eher grundlegenden Überlegungen, etwa zur medizinischen Ausbildung, gegenüber stehen. Den Auftakt bilden unter dem Titel „Perspektiven“ drei Beiträge, die sich eher allgemein mit der ärztlichen Ausbildung befassen. Darunter ist der Beitrag von Paul Mueller, der an der Mayo Clinic in Rochester (USA) lehrt, besonders interessant, weil er eine Brücke zur der in den angloamerikanischen Ländern seit einigen Jahren mit großer Intensität geführten Professionalismus-Debatte schlägt. Professionalismus wird dabei als Überbegriff für Einstellungen, Ziele und Verhalten von Angehörigen des ärztlichen Standes (engl.: Profession) verstanden. Mueller schildert am Beispiel der Mayo-Clinic, die sich als Institution einem hohen Standard nicht nur in der Patientenversorgung sondern gerade auch im Hinblick auf die Haltung und das Verhalten ihrer Ärzte verschrieben hat, ein Konzept, mit dem auf allen Ebenen der ärztlichen Hierarchie professionelles Verhalten definiert, vermittelt, eingefordert und überprüft wird. Dabei werden – ohne dass dies eigens ausführlicher diskutiert wird – allerdings auch manche der Herausforderungen deutlich, die sich aus dem Versuch ergeben, das Konstrukt Professionalismus so zu konkretisieren, dass es überprüfbar und lehrbar wird. Einige der von Mueller benannten Elemente wie Klinische Kompetenz, Kommunikationsfähigkeit sowie ein solides Verständnis der ethischen und rechtlichen Grundlagen des ärztlichen Handelns lassen sich eher leicht definieren und inhaltlich bestimmen. Schwieriger dagegen sind Werte wie Altruismus oder Menschlichkeit zu fassen. Der Wunsch, auch solche „Bestandteile“ des guten Arztes analog zu anderen Kompetenzbereichen möglichst eindeutig zu operationalisieren und damit überprüfbar zu machen, stößt unweigerlich an Grenzen. Vor dem Hintergrund individueller Wertabwägungen und eines gesellschaftlichen Wertepluralismus kann die Angemessenheit bestimmter Prinzipien – wie etwa Altruismus – von Fall zu Fall sehr unterschiedlich beurteilt werden. So wird z.B. die Frage, in wieweit „gute“ Ärzte bereit sein müssen, sich über ihre eigentliche Arbeitszeit hinaus für das Wohl ihrer Patienten zu engagieren, zunehmend kontrovers diskutiert und ist einem – kulturell durchaus mit unterschiedlicher Dynamik erfolgenden – gesellschaftlichen Wandel unterworfen.

Verschärfend kommt hinzu, dass das jeweilige Umfeld, in dem ärztliches Handeln stattfindet, einen erheblichen Einfluss darauf hat, ob und wie Einstellungen und Haltungen handlungsrelevant werden (können). Diese Kontextabhängigkeit professionellen Verhaltens verdeutlicht der leider sehr kurze Beitrag von Wolfgang Klitzsch, Geschäftsführer der Ärztekammer Nordrhein, zum zweiten inhaltlichen Schwerpunkt („gesellschaftlicher Kontext“). Er benennt fünf Konfliktfelder, die es dem Arzt erschweren können, ein guter Arzt zu sein. Dazu gehören seiner Ansicht nach neben einem inkonsistenten Ordnungsrahmen, der z.B. durch falsch gesetzte finanzielle Anreize ein am Patientenwohl orientiertes Handeln konterkarieren kann, auch eine übersteigerte Erwartungshaltung von Patienten an die Medizin, gegenüber der die gesundheitliche Eigenverantwortung in den Hintergrund gedrängt wird. Der Beitrag von Bettina Berger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Medizintheorie, integrative und anthroposophische Medizin an der Uni Witten/Herdecke, zeigt in diesem Zusammenhang, dass die Perspektive der Patienten auf den guten Arzt sehr unterschiedlich ausfallen kann, je nach Alter, Art der Erkrankung und anderen individuellen Charakteristika. Dennoch lassen sich aus Patientensicht neben den spezifischen Bedürfnissen auch allgemeine Kriterien eines guten Arztes benennen: Etwa dass er menschlich und kompetent ist, die Patienten an Entscheidungen beteiligt, sich Zeit nimmt, verfügbar und ansprechbar ist, die Patienten umfassend informiert, sich für die Bedürfnisse der Patienten interessiert, insgesamt gut kommuniziert und auf die Wünsche der Patienten eingeht. Aufgrund des anhaltenden Wandels des Krankheitsspektrums hin zu mehr chronischen Erkrankungen sowie der zunehmenden Kooperation im Gesundheitswesen, richten sich diese Ansprüche der Patienten allerdings nicht mehr nur an den individuellen Arzt sondern mehr noch an das gesamte Behandlungsteam.

Dass sich dabei die Kommunikation als eine der zentralen Schlüsselkompetenzen des guten Arztes herausstellt ist nicht weiter verwunderlich. Folgerichtig bilden die Beiträge der Kapitel zur Kommunikation und zur Empathie das Schwergewicht des Bandes. Dazu trägt sicherlich auch die Tatsache bei, dass die kommunikativen Kompetenzen vergleichsweise gut beforscht und daher auch leichter zu operationalisieren sind, als viele andere der in Frage kommenden Qualitäten oder Kompetenzbereiche. Dennoch sind auch hier noch viele Fragen offen, wie etwa der Beitrag von Melanie Neumann, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Medizintheorie in Witten, und ihren Co-Autoren zur Empathie vor Augen führt. So ist die Empathie zwar eine der wichtigsten Komponenten kommunikativer Kompetenz und wird entsprechend prominent als Grundhaltung im Gespräch empfohlen bzw. eingefordert. Dem gegenüber stehen aber eine auffallende definitorische Unschärfe einerseits sowie eine Vielzahl von Instrumenten um Empathie zu messen andererseits. Will man das Verständnis für die Rolle von Empathie in der Arzt-Patient-Kommunikation vertiefen, dann ist es unbedingt erforderlich, die definitorischen Unklarheiten so weit wie möglich zu beseitigen und sich auf wenige bewährte Instrumente zu fokussieren. Auf einer solchen Grundlage könnten dann auch effektive und überprüfbare Ausbildungskonzepte entwickelt werden, in denen etwa auch der Einfluss des jeweiligen Arbeits- bzw. Lernumfeldes auf die Empathie berücksichtigt wird.

Andere Artikel zur Kommunikation befassen sich z.B. mit narrativen Herangehensweisen an die Arzt-Patient-Beziehung oder mit theoretischen Aspekten der Arzt-Patienten-Interaktion, wobei man sich hier gewünscht hätte, dass noch stärker auf die Ergebnisse gerade der sprachwissenschaftlichen Studien zur Arzt-Patient-Kommunikation eingegangen wird (vielleicht zu Lasten der eher als bekannt voraussetzbaren Kommunikationstheorie von Watzlawick), gerade weil diese vielfältigen Forschungsbefunde „unüberschaubar“ sind und sich in ihrer Zielsetzung und Methodik durchaus von denen „innerhalb“ der Medizin durchgeführten Studien unterscheiden.

Zwei Artikel zu Besonderheiten der Komplementärmedizin bilden schließlich den fünften thematischen Schwerpunkt des Bandes. Die Ergebnisse einer qualitativen Studie von Gunnar Stollberg, Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld, über die Motivation von Ärzten, komplementärmedizinisch tätig zu sein, sowie zu den Vorstellungen, die diese Ärzte und ihre Patienten von einem guten Arzt haben, wirft ein grelles Licht auf die Defizite der Schulmedizin. Denn die Patienten nennen hier primär Aspekte, die auch von schulmedizinisch tätigen Ärzten umgesetzt werden könnten, z.B. ausreichend Zeit für den Patienten zu haben, ihn ganzheitlich und als Individuum zu betrachten, zuverlässige Terminabsprachen, Hausbesuche sowie das Respektieren von Schamgrenzen. Interessant ist auch, dass viele der befragten Patienten wenig Bedürfnis nach partizipativer Entscheidungsfindung verspürten, sondern sich eher dem Arzt anvertrauten. Dass es gerade diese allgemeinen und nicht in erster Linie medizinischen Aspekte sind, die Patienten komplementärmedizinischer Ärzten als Attribute des guten Arztes benennen, verdeutlicht einmal mehr, wo die eigentlichen Versäumnisse der Schulmedizin liegen (Ausnahmen bestätigen die Regel).

Insgesamt hinterlässt die Lektüre des Bandes einen zwiespältigen Eindruck. Dafür ist zum einen die heterogene Qualität der Beiträge verantwortlich und zum anderen die Tatsache, dass er seinem Titel kaum gerecht wird. Zwar wird das Thema des guten Arztes aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, ein interdisziplinärer Dialog entsteht dabei allerdings kaum. Dieser, so darf vermutet werden, fand im Anschluss an die Vorträge bei den Diskussionen der Tagung statt, die leider nicht dokumentiert sind.


Interessenskonflikt

Der Autor erklärt, dass er keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.