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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Abschlusskompetenzen für alle Gesundheitsberufe: das schweizerische Rahmenwerk und seine Konzeption

Projekt Humanmedizin

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GMS Z Med Ausbild 2011;28(1):Doc11

doi: 10.3205/zma000723, urn:nbn:de:0183-zma0007235

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zma/2011-28/zma000723.shtml

Eingereicht: 12. Juli 2010
Überarbeitet: 20. Oktober 2010
Angenommen: 11. November 2010
Veröffentlicht: 4. Februar 2011

© 2011 Sottas.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Eine moderne Bildungskonzeption basiert auf der Regelung mittels normativen Zielen über die zu erwerbenden Kompetenzen. Im Rahmen des Projektes Abschlusskompetenzen galt es, für die Schweiz allgemeine (gesundheitspolitische) und berufsspezifische Ausbildungsziele für die Studiengänge Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Hebamme, Ernährungsberatung und medizinisch-technische Radiologie auf Bachelor- und Master-Stufe zu erarbeiten. Zudem war ein Integrationsinstrument notwendig, um die alten Berufsbildungen in die abgestimmte nationale Bildungssystematik zu überführen. Die allgemeinen Kompetenzen sind aus Rechtsgrundlagen abgeleitet. Die berufsspezifischen Kompetenzen basieren auf dem kanadischen Rollenkonzept von CanMEDS, in dem Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten in „Metakompetenzen“ verdichten werden, die das professionelle Handeln in sieben Rollen aufgliedern. Die Rolle Experte wird eigenständig definiert. Die taxonomischen Ausprägungen und Indikatoren wurden in einem iterativen Prozess unter Einbezug der Regulatoren, der Fachhochschulen und der Berufsorganisationen erarbeitet. Für die genannten Ausbildungen ist es gelungen, eine Konzeption zu entwickeln, welche nebst dem fachlichen Können im engeren Sinn die Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen und das Schnittstellen-Management als entscheidende Erfolgsfaktoren behandelt. Aus dieser Konzeption wurde in der Schweiz eine Hierarchie von drei Zielebenen abgeleitet: die allgemeinen und die berufsspezifischen Kompetenzen sowie fachspezifische Lernziele. Die allgemeinen Kompetenzen umfassen vier Dimensionen und gelten für alle Health Professionals. Die berufsspezifischen Kompetenzen wurden für die sechs Berufe auf Bachelor- und Masterstufe mit jeweils 3 – 5 Indikatoren umschrieben. Die definierten Abschlusskompetenzen erlauben eine niveaugerechte Verortung auf der Hochschulstufe. Das entwickelte Kompetenzenkonzept lässt sich auf alle Gesundheitsberufe anwenden. Die allgemeinen und berufsspezifischen Abschlusskompetenzen sind ein kohärentes, horizontal zwischen sechs Gesundheitsberufen abgestimmtes Normenwerk, welches die Ziele auf Bachelor- und Masterstufe differenziert darstellt und einen Beitrag zur Befähigung zur interprofessionellen Zusammenarbeit leistet.

Schlüsselwörter: Gesundheitsberufe, Ausbildung, fachliche Praxis


Einleitung

Gesundheitsberufe machen immer wieder die lange Tradition der Selbstorganisation und der autonomen Ausgestaltung der Inhalte geltend. Distanz zum Regel-Bildungssystem war ein Markenzeichen. Dies mag ein Ergebnis der Professionalisierung sein, bei der die liberale Berufsausübung, die Abgrenzung und auch die Nichtweitergabe des Wissens an Aussenstehende wichtiger war als die gesundheitspolitische Mission.

In der Schweiz verringerte sich diese Autonomie schrittweise während Jahrzehnten, denn in einem dichter werdenden Regelwerk zielten Bestimmungen der staatlichen Aufsicht darauf ab, die Therapeuten zu kontrollieren, den „Nähr- und Wehrstand“ zu erhalten, die Bürger vor Täuschung und Schädigung zu schützen, für die Gesellschaft Gesundheitsnutzen und Wirksamkeit zu erzielen, vergleichbare Kompetenzen bei den Leistungserbringern zu erreichen, das Angebot zu planen und zu regulieren sowie ggf. die Berufsausübung einzuschränken. Dieses Verhältnis hat sich insbesondere seit dem Jahr 2000 massgeblich gewandelt. Eine Verfassungsänderung und die Bilateralen Verträge mit der EU verlangten eine abgestimmte nationale Bildungssystematik und verliehen dem Art. 95 der Verfassung über die Wirtschaftsfreiheit eine neue Bedeutung, die gerade auch in der Ausbildung und Berufsausübung im Gesundheitssektor Staatseingriffe legitimiert [1], [2], [3]. Mit dieser Verschiebung fiel es dem Bund zu, die Qualität der Bildung zu überprüfen und Diplome zu erteilen – nicht nur für die universitären Medizinalberufe. Letztere gewährleisten die Freizügigkeit zwischen den Kantonen und berechtigen zur Berufsausübung im ganzen Land (und in der EU). Entscheidend ist dabei auch, dass die neuen Machtverhältnisse viel mehr Raum schufen, um gesundheitspolitische Erwägungen als übergeordnete Ziel- und Steuerungsvorgaben einzufügen.

Seit Mitte der Neunzigerjahre hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass im Gesundheitswesen nebst den fachlichen Kompetenzen die Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen und das Schnittstellen-Management entscheidende Erfolgsfaktoren sind. Health Professionals müssen sich als Teil eines Systems verstehen, das weit über die Behandlung in face-to-face-Interaktion mit einem Patienten hinausreicht. Sie arbeiten in einem hoch regulierten, komplex organisierten sowie immer teureren Gesundheitssystem. Die Prozesse verlaufen zunehmend sektorübergreifend und wegen der Kosten besteht ein starkes öffentliches Interesse an der Wirksamkeit der Berufsausübung.

Diese fundamentalen Veränderungen erfordern einen system- und prozessbezogenen Ansatz. Heilung und Linderung von Leiden hängt nicht mehr von der Intervention einer einzigen Person ab, denn Wirkungen und Patientennutzen sind das Ergebnis eines Prozesses. Versorgungsqualität und Patientensicherheit gewährleisten heisst, nicht nur Pathologien zu kurieren und nicht nur Expertise im therapeutischen Berufsfeld zu haben. Ein optimales Zusammenspiel mehrerer Kategorien von Professionals mit unterschiedlichen Kompetenzen – Leistungserbringer und Ermöglicher – ist Voraussetzung für das Erreichen präventiver, diagnostischer, therapeutischer, rehabilitativer oder palliativer Ziele und Massnahmen. Der Outcome ist in fast jedem Fall ein Teamergebnis.


Projektbeschreibung

Abschlusskompetenzen als Harmonisierungsinstrument

Die mit Traditionen begründete Uneinigkeit über die Ausrichtung und die Natur der Berufsbefähigung dominierte in der Schweiz die Entwicklung und Beratung des Bundesgesetzes über die universitären Medizinalberufe [4]. Dennoch wurde dieses im Juni 2006 vom Parlament im Sinne der Regierung approbiert. Bei der folgenden Regulierung der Pflege, Physiotherapie, Hebammenkunde, Ergotherapie, Ernährungsberatung und medizinisch-technische Radiologie eröffnete sich die Chance, mit einer analogen Konzeption die Positionen zu überbrücken und einen wichtigen Schritt Richtung Harmonisierung aller reglementierten Berufe im Gesundheitssektor zu tun.

Das Medizinalberufegesetz hatte den Charakter eines Leitgesetzes. Umso wichtiger war es, im Projekt Abschlusskompetenzen die Ergebnisse der parlamentarischen Beratung und die Erkenntnisse aus seiner Umsetzung zu berücksichtigen sowie einige gesundheits- und bildungspolitische Lücken systematisch zu schliessen, insbesondere betreffend die allgemeinen Kompetenzen.

Gesundheitsberufe in der schweizerischen Bildungssystematik

Die Berufe Physiotherapie, Ergotherapie, Hebamme und Ernährungsberatung werden in der Schweiz seit 2006 ausschliesslich an Fachhochschulen ausgebildet. Diese sind den Universitäten rechtlich gleichgestellt („gleichwertig aber andersartig“). Für die Pflege und die medizinisch-technische Radiologie (MTRA) bestehen daneben ebenfalls Ausbildungen auf Stufe der Höheren Fachschulen [5]. Der Fachbereich Gesundheit der Fachhochschulen wurde 2005 in die Regelungskompetenz des Bundes überführt. Seither ist das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) verantwortlich, für gesamtschweizerisch einheitliche Anforderungen zu sorgen und sicherzustellen, dass die Einhaltung dieser Vorgaben im Rahmen der Akkreditierung überprüft wird.

Die Studiengänge der Fachhochschulen umfassen 180 ECTS Kreditpunkte, dauern drei Jahre und werden mit dem eidgenössisch anerkannten Abschluss Bachelor of Science (BSc) in den sechs Studienrichtungen abgeschlossen. Voraussetzung ist eine Berufs-, Fach- oder gymnasiale Maturität. Einzelne Fachbereiche sehen zusätzliche Eignungsabklärungen vor. Die ersten Fachhochschul-Bachelor-Diplome wurden im Herbst 2009 erteilt. Sie eröffnen den Zugang zu einem Master-Studium, welches in der Regel 90 ECTS-Kreditpunkte umfasst und eineinhalb bis zwei Jahre dauert. Zum aktuellen Zeitpunkt sind im Bereich Gesundheit erst Master-Studiengänge in Pflege und in Physiotherapie bewilligt worden [6]. Im Jahre 2010 wurden an den sechs Fachhochschulen rund 1200 Bachelor-Diplome verliehen, wobei Pflege mit 735 und Physiotherapie mit 260 Abschlüssen die mit Abstand grössten Studienrichtungen sind [7].

Zielhierarchie auf drei Ebenen

Bei den Gesundheitsberufen handelt es sich um reglementierte Berufe. Diese Reglementierung wird von übergeordneten rechtlichen Normen abgeleitet (Verfassung, Gesetze) und steht im Dienste der Patientensicherheit und Wirksamkeit des beruflichen Handelns. Daneben erlangen die eingangs erwähnten gesundheitspolitischen Motive Bedeutsamkeit.

Weil der althergebrachte Fächerkanon keine adäquaten Antworten auf die oben genannten Herausforderungen gibt, basiert eine moderne Konzeption auf der Regelung mittels normativer Ziele über die zu erwerbenden Kompetenzen. Diese Sichtweise ist zwar nicht neu und fand sich auch in den Ausbildungszielen, doch die Umsetzung liess lange Zeit auf sich warten. In der Ausbildung der akademischen Medizinalberufe begann man erst im Rahmen der ab 1999 erlassenen Experimentierverordnungen vom herkömmlichen Fächerkanon abzurücken, um neue Formen wie Skillslab, OSCE und problembasiertes Lernen (PBL) einzuführen [8]. Auch an den Gesundheits-Berufsfachschulen war PBL bis zur Jahrtausendwende kaum anzutreffen.

Aus der Konzeption, welche die zu erwerbenden Kompetenzen ins Zentrum rückt, wurde in der Schweiz kurz nach dem Jahr 2000 in den Entwürfen zum Medizinalberufegesetz eine Hierarchie von drei Zielebenen abgeleitet: die allgemeinen und die berufsspezifischen Kompetenzen sowie die fachspezifischen Lernziele:

  • Allgemeine Kompetenzen: Aufgrund der Verfassungsbestimmungen zum Gesundheitsschutz gelten die allgemeinen Kompetenzen grundsätzlich für alle reglementierten Gesundheitsberufe. Sie drücken im Wesentlichen die hoheitlichen Erwartungen aus, die als Voraussetzung für die Berufsausübung an die Fachleute gerichtet werden.
  • Berufsspezifische Kompetenzen: Für jedes Berufsprofil wurden die Anforderungen unter Berücksichtigung international etablierter Standards festgelegt. Sie definieren die Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die Kenntnisse und Haltungen bei Diplomabschlüssen auf Bachelor- und Masterstufe und bestimmen damit im Wesentlichen den Umfang des professionellen Handelns.
  • Fachspezifische Lernziele: Abgeleitet aus den übergeordneten Zielen haben die Bildungsstätten den Auftrag, bedarfsgerechte und zukunftsfähige Gesundheitsfachleute auszubilden. Sie koordinieren und steuern diese mittels Lernzielen für jeden Studiengang mit einem nationalen, verbindlichen Lernzielkatalog, der auch die taxonomische Höhe ausweist. Dieser wird vom Staat genehmigt und ist eines der Instrumente der Akkreditierung.

Allgemeine Kompetenzen – das „System lesen“ und mit ihm arbeiten können

Die allgemeinen Kompetenzen sind eine Originalarbeit des Schweizer Projekts „Abschlusskompetenzen für die Fachhochschul-Gesundheitsberufe“. Sie basieren auf einem Raster von Zielen, die im Medizinalberufegesetz als Leitgesetz vorgegeben sind. Sie umfassen im Weiteren Elemente aus der parlamentarischen Beratung und Erfahrungen der Einführungsphase.

Die allgemeinen Kompetenzen umfassen vier Dimensionen und gelten für alle Health Professionals. Dahinter steht die Überzeugung, dass nicht nur fachspezifisches Wissen benötigt wird, sondern dass daneben auch ein übergeordnetes Verständnis der Rechtsgrundlagen und der gesundheitspolitischen Prozesse erforderlich ist.

Beim Abschluss müssen Health Professionals über folgende allgemeine Kompetenzen verfügen:

A. Gesundheitspolitisches Orientierungswissen

1.
sie kennen die rechtlichen Grundlagen, die gesundheitspolitischen Prioritäten, die Steuerung und die Grenzen des schweizerischen Gesundheits-Versorgungssystems und des sozialen Sicherungssystems
2.
sie sind befähigt, die Berufsausübung nach den gesundheitspolitischen Vorgaben auszurichten und fortlaufend die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit sowie die Qualität und Angemessenheit der erbrachten bzw. ausgelösten Leistungen zu evaluieren

B. Berufsspezifische Expertise und Methodenkompetenz

1.
sie verfügen über die wissenschaftlichen Kenntnisse, die für die präventiven, diagnostischen, therapeutischen, palliativen und rehabilitativen Massnahmen erforderlich sind
2.
sie sind mit den Methoden der wissenschaftlichen Forschung im Gesundheitsbereich und der Evidence Based Practice vertraut
3.
sie kennen die gesundheitserhaltenden und gesundheitsfördernden Einflüsse auf individueller und Bevölkerungsebene und sie sind fähig, Massnahmen einzuleiten, welche zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen
4.
sie beherrschen das clinical reasoning und können Massnahmen konzipieren, welche sich systemisch in die Behandlung und Versorgung einfügen
5.
sie sind befähigt, eine qualitativ hochstehende Versorgung in Übereinstimmung mit der best practice ihres Berufes zu erbringen

C. Professionalität und Verantwortungsbewusstsein

1.
sie übernehmen die Verantwortung für ihr Handeln und erkennen sowie respektieren die eigenen Grenzen
2.
sie handeln engagiert und nach ethischen Prinzipien, nehmen ihre Verantwortung gegenüber Individuum, Gesellschaft und Umwelt wahr und wahren das Selbstbestimmungsrecht der Personen
3.
sie sind im Stande, bei der Berufsausübung innovativ zu handeln und diese unter Einbezug der wissenschaftlichen Erkenntnisse weiterzuentwickeln sowie die Fertigkeiten und Fähigkeiten laufend zu reflektieren und im Sinne des lebenslangen Lernens fortlaufend zu aktualisieren
4.
sie sind befähigt, an Forschungsvorhaben mitzuwirken und relevante Ergebnisse in die Berufsausübung einfliessen zu lassen
5.
sie handeln autonom aufgrund einer professionellen Beurteilung

D. Fähigkeiten betr. Kommunikation, Interaktion, Dokumentation

1.
sie suchen aktiv die interprofessionelle Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen und anderen Akteuren des Versorgungssystems
2.
sie sind fähig, zu den Patientinnen und Patienten bzw. Klientinnen und Klienten und deren Angehörigen eine professionelle und den Umständen angemessene Beziehung aufzubauen und sie zweckmässig zu beraten
3.
sie können das eigene Handeln aussagekräftig darstellen und nachvollziehbar dokumentieren und sie kennen Anwendungen von eHealth-Instrumenten beim Patienten- und Versorgungsmanagement

Berufsspezifische Kompetenzen – mehr können als diagnostizieren und therapieren

Das Schweizer Modell für die berufsspezifischen Kompetenzen basiert auf dem kanadischen Rollenkonzept von CanMEDS. Das Royal College of Physicians and Surgeans of Canada hatte 1996 einen ersten kompetenzorientierten Lernzielkatalog für die medizinische Weiterbildung entwickelt. 2005 wurde dieser nach einem breitangelegten Meinungsbildungsprozess grundlegend revidiert und als Standard für die medizinische Grund- und Weiterbildung positioniert [9], [10]. Das CanMEDS-Modell wurde in Kanada für die Ausbildung in Ergotherapie übernommen [11] und weltweit in vielen Variationen adaptiert. Die in der Schweiz vorgenommene systematische Transposition des Rollen- und Kompetenzprofils auf mehrere Gesundheitsberufe ist jedoch ein Novum.

Im CanMEDS-Rollenkonzept wird der Kompetenzbegriff als Prozess definiert, der darin besteht, die grundlegenden Fähigkeiten zu definieren, welche es gestatten, die verfügbaren Erkenntnisse über wirksames Handeln in nutzbringende Elemente für die Ausbildung zu übersetzen [9]. Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten werden in «Metakompetenzen» verdichtet, welche das professionelle Handeln in sieben Rollen aufgliedern. Neben dem CanMEDS-Modell wird die Kompetenzdefinition in der Schweiz auch von der Terminologie des Kopenhagen-Prozesses (EU-Projekt zur Bildung eines europäischen Raums für Berufsbildung) sowie vom erwähnten Medizinalberufegesetz geprägt. Im Kopenhagen-Prozess bezeichnen Kompetenzen die Fähigkeit zur Anwendung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Know-how und setzen sich aus Wissen, Fachkompetenz und Verhalten zusammen [12]. In der Botschaft zum Medizinalberufegesetz heisst „Kompetenzorientierung“ die umfassende Vorbereitung auf die fachlichen, menschlichen, ethischen, technischen und ökonomischen Berufsanforderungen sowie die Ausrichtung auf Evidenz, um die jeweils wirksamsten, effektivsten und sichersten Verfahren einsetzen zu können [3].

Besonders lehrreich war das methodische Vorgehen zur Erarbeitung und Festlegung der berufsspezifischen Kompetenzen. Dabei konnten die sechs sog. Berufskonferenzen, bestehend aus den Fachvertretern der Studiengänge an den Fachhochschulen, die Kompetenzbereiche inhaltlich und taxonomisch unter Berücksichtigung von national und international vorliegenden Vorgaben und Referenzdokumenten umschreiben. Im Verlaufe des sechsmonatigen Prozesses wurden zwei Zeitfenster definiert, um die Zwischenergebnisse mit den Berufsorganisationen und den Fachhochschulen zu besprechen. Die Projektleitung hat den Prozess mittels Meilensteinen sowie durch vorgegebene Indikatoren und Modellformulierungen zum Abstraktionsniveau gesteuert. Die Zwischenergebnisse wurden von der Projektleitung in zwei Schritten überprüft. Für die weiterführende Diskussion wurden diese in synoptischen Tabellen dargestellt, wobei jede Fachkonferenz eine Würdigung mit Kommentaren, Empfehlungen und Vorgaben erhalten hat. Dieses iterative Vorgehen führte zu einer hohen Identifikation mit dem Ergebnis und zu einem Referenzdokument, das für alle Studiengänge gleich aufgebaut ist und vergleichbare Aussagen macht.

Die berufsspezifischen Kompetenzen in den sieben Rollen fokussieren auf die Berufsausübung: Experte in…, Kommunikator, Teamworker, Manager, Health Advocate, Lernender/Lehrender, Professionsangehöriger. Sie definieren die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse, die bei Studienabschluss auf Bachelor- und Masterstufe erworben sein müssen.

Neu ist dabei der Umstand, dass gegenüber der traditionellen Konzeption der Ausbildungsziele - Expertise und Methodenkompetenz als Angehöriger einer bestimmten Profession - ein umfassendes Kompetenzenrepertoire gefordert ist. Die mit den Rollen verbundenen Handlungsmuster geben dabei Antworten auf die eingangs genannten Herausforderungen.

Die berufsspezifischen Kompetenzen wurden im Schweizer Modell für die Bachelor- und Master-Studiengänge in Pflege, Physiotherapie, Hebammenkunde, Ergotherapie, Ernährungsberatung und medizinisch-technische Radiologie für alle Rollen mit jeweils 3-5 Indikatoren umschrieben (der vollständige Katalog für die sechs Studiengänge und die zwei Niveaus umfasst rund 70 Seiten und ist unter http://www.formative-works.ch abrufbar). Das Rollenkonzept von CanMEDS wurde in der Schweiz für die Definition der berufsspezifischen Kompetenzen adaptiert.

Ein wesentlicher Unterschied zur kanadischen Vorlage ist die eigenständige Ausprägung der Rolle des Experten. Sie ist nicht einfach das Ergebnis der Performance in den anderen Rollen, sondern sie hat eine fachspezifische Ausprägung mit Indikatoren und Zielen (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

Ein Physiotherapeut beispielsweise wird bereits nach Studienabschluss «Experte in Physiotherapie». Der Begriff « Experte in... » des CanMEDS-Referenzrahmens lehnt sich an das in formaler Bildung erworbene berufliche Wissen und die berufsbezogenen Kompetenzen an, welche es der Fachperson gestatten, bei der Berufsausübung sowie in einer sie betreffenden Situation oder Debatte professionell (autonom) handlungsfähig zu sein. Er gestattet es, durch diese Rolle, welche für jeden Beruf spezifisch ist, die Funktion/Berufsrolle und die Positionierung dieses Berufs im gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Kontext zu reflektieren. Er wird « Experte in… » sobald sein berufliches Wissen es ihm gestattet, in seinem Fachgebiet eine eigenständige Beurteilung vorzunehmen. Diese Expertise ist zwar je nach Bildungsabschluss unterschiedlich breit und tief, aber nachweislich vorhanden und in jedem Fall berufsbefähigend. Diese Konzeption legitimiert insbesondere die Aushändigung eines staatlichen Diploms, welches zur Berufsausübung berechtigt.


Diskussion und Fazit

Das Konzept des CanMEDS-Referenzrahmens gestattet es, das Kompetenzprofil in jedem Beruf nach Massgabe der individuellen Talente und Neigungen zu differenzieren und die Workforce wirkungsvoller einzusetzen. Bildungs- und gesundheitspolitisch resultiert aus dieser Konzeption zudem ein erheblicher Gewinn, weil alle Diplomierten als vollwertige Berufsleute gelten, nicht als Langzeit-Lernende, die führungsbedürftig in subalternen Positionen verharren.

Die allgemeinen und berufsspezifischen Abschlusskompetenzen sind ein kohärentes, horizontal zwischen sechs Gesundheitsberufen abgestimmtes Normenwerk, welche die Ziele auf Bachelor- und Masterstufe differenziert darstellt. Es ist parallel zu den universitären Medizinalberufen angelegt und leistet so einen Beitrag zur Befähigung zur interprofessionellen Zusammenarbeit.

Obschon bisher keine entsprechenden Rückmeldungen von den Bildungsstätten vorliegen ist es denkbar, dass einzelne Inhalte oder Lernschritte nicht immer eindeutig bestimmten Kompetenzen zugeordnet werden können. Gerade zwischen der berufsspezifischen Expertise und Methodenkompetenz, die unter den allgemeinen Kompetenzen genannt wird und der Rolle als „Experte in…“ kann es Abgrenzungsprobleme geben. Die Unterteilung auf die genannten drei Kompetenzebenen ist jedoch eine Vorgabe des Gesetzgebers. Ausserdem betrifft die entscheidende Neuerung nicht die detaillierte Einordnung der Kompetenzen, sondern die Entwicklung des umfassenden Katalogs von aussagekräftigen Indikatoren. Die Konzeption der Abschlusskompetenzen verdeutlicht, dass fundiertes diagnostisches und therapeutisches Wissen zwar eine unabdingbare, aber nicht hinreichende Voraussetzung für eine wirksame Berufsausübung ist. Professionalisierung im Sinne von „more of the same“ – nämlich mehr Fachexpertise mittels fachspezifischer Vertiefung – wird nicht als zukunftsfähig verstanden. Kompetenzorientierung verlangt Lernerfahrungen, die auf die fachlichen, menschlichen, ethischen, technischen und ökonomischen Berufsanforderungen vorbereiten. Im Weiteren müssen diese Fachpersonen Verantwortung, Bildungs- und Führungsaufgaben übernehmen und unter Respektierung der Grenzen und Schwächen mit Angehörigen anderer Berufe zusammen arbeiten, sie müssen sich anpassen, eingliedern, ein- und durchsetzen. Zudem erfordern Entscheidungen bei Kosten-Nutzen-Abwägungen und beim Einsatz beschränkter Ressourcen ethisches Urteilsvermögen.

In der praktischen Konsequenz bedeutet dies eine Verschiebung der Definitionsmacht der Bildungsinhalte. Die Professionals – insbesondere jene, die in den Hochschulen lehren und forschen - definieren den engeren Bereich der fachlichen und methodischen Expertise. In der Gesamtsteuerung sind sie aber den gesundheitspolitischen Intentionen und Steuerungsvorgaben deutlich unterstellt.


Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass er keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

1.
Bundesamt für Berufsbildung und Technologie BBT. Internationale Diplomanerkennung. Bericht über die Anerkennung ausländischer Diplome in der Schweiz und die Anerkennung schweizerischer Diplome im Ausland: Regelungen, bestehende Praktiken und Handlungsbedarf. Bern: Bundesamt für Berufsbildung und Technologie BBT; 2001. Zugänglich unter/available under: http://www.gdk-cds.ch/fileadmin/pdf/Themen/Bildung/Rechtsgrundlagen/Int.Diplomanerkennung-02.01.pdf Externer Link
2.
Bologna Secretariat. London Communiqué. Towards the European Higher Education Area: responding to challenges in a globalised world. Bologna: Bologna Secretariat; 2007. Zugänglich unter/available under: http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20100202100434/dcsf.gov.uk/londonbologna/uploads/documents/londoncommuniquefinalwithlondonlogo.pdf Externer Link
3.
Schweizer Bundesrat. Botschaft zum Bundesgesetz über die universitären Medizinalberufe (Medizinalberufegesetz, MedBG) vom 3. Dezember 2004. Bundesblatt Nr. 2. 18. Januar 2005. S. 248. Bern: Schweizer Bundesrat; 2005. Zugänglich unter/available under: http://www.admin.ch/ch/d/ff/2005/173.pdf Externer Link
4.
Schweizer Bundesrat. Bundesgesetz über die universitären Medizinalberufe (Medizinalberufegesetz, MedBG) vom 23. Juni 2006. SR 811.11 (1. September 2007). Bern: Schweizer Bundesrat; 2007.
5.
Meyer PC, Sottas B. Berufe im Gesundheitswesen. In: Kocher G, Oggier W (Hrsg), Gesundheitswesen Schweiz 2010-2012. Bern: Huber-Verlag; 2010. S.41-47.
6.
Bundesamt für Berufsbildung und Technologie BBT. Eidgenössisch bewilligte und akkreditierte oder zu akkreditierende Master-Studiengänge. Bern: Bundesamt für Berufsbildung und Technologie BBT; 2010. Zugänglich unter/available under: http://www.bbt.admin.ch/themen/hochschulen/00517/index.html?lang=de Externer Link
7.
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Bundesamt für Gesundheit BAG. Rechtliche Grundlagen. III Experimentierverordnungen. Bern: Bundesamt für Gesundheit BAG; 2006. Zugänglich unter/available under: http://www.bag.admin.ch/themen/berufe/00410/index.html?lang=de Externer Link
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