gms | German Medical Science

GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Viktor von Weizsäcker: Warum wird man krank? Ein Lesebuch

Buchbesprechung/book report Humanmedizin

Suche in Medline nach

GMS Z Med Ausbild 2010;27(4):Doc54

doi: 10.3205/zma000691, urn:nbn:de:0183-zma0006912

Eingereicht: 12. März 2009
Überarbeitet: 9. Juni 2010
Angenommen: 9. Juni 2010
Veröffentlicht: 16. August 2010

© 2010 Nippert.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Bibliographische Angaben

Viktor von Weizsäcker

Warum wird man krank? Ein Lesebuch

Reihe medizinHuman, Band 5

Frankfurt/Main, Suhrkamp Verlag

Seitenzahl: 341, € 10,00

Erscheinungsjahr: 2008


Rezension

Die Schriften Viktor von Weizsäckers, die in diesem Band zusammen gestellt sind, entstammen ganz unterschiedlichen Epochen des Lebens des Autors. Sie umspannen die Zeit von 1926 -1956 und spiegeln die Situation der Medizin im 20. Jahrhundert. Dabei wird vor allem die Beziehung zwischen Arzt und Patient mit all ihren Brechungen und Entwicklungen, die sie im vorigen Jahrhundert erfuhr, thematisiert. Die Erfahrung, dass diese Beziehung sowohl von den individuell psychosozialen Bedingungen des Patienten als auch denen des Arztes konstituiert wird und den Prozess des „Verstehens von Krankheit“ wesentlich beeinflusst, war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis weit in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg, keineswegs allgemein akzeptierte Auffassung, und ist es ja teilweise auch heute noch nicht immer. Den Kranken verstehen, ihm in seiner jeweils spezifischen Gedanken- und Handlungswelt, dem Ursprung seiner Erkrankung, nachzuspüren, dafür hat v. Weizsäcker stets plädiert. Sein Plädoyer für „Psychologie in die Medizin“ fußte auf der Erfahrung, dass die ausschließlich naturwissenschaftlich orientierte Medizin, deren Leitbild die de la Mettrie’sche Idee des „l’homme machine“ ist, sich charakteristischer Erkenntnismöglichkeit der Entstehung und Entwicklung von Krankheit im individuellen Fall begibt. Das wird deutlich, wenn er über die biographische Methode in der Medizin spricht und dabei seine Nähe zur Psychoanalyse Freuds deutlich macht: „Als ich als Internist mich diesen Aufgaben zuwandte, konnte ich bald bemerken, dass ich, wenn ich eine psychosomatische Medizin vertreten will, auch FREUDS Psychoanalyse verteidigen muss.“ [1].

Das Zusammenspiel von Verstehen und Handeln zwischen Arzt und Patient impliziert Gemeinsamkeit: Gemeinsamkeit bei der Suche nach Ursache und Sinn der Krankheit. So wird die herkömmlich „asymmetrische“ Arzt-Patient-Beziehung ansatzweise überwunden, und der kranke Mensch in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt. Nicht selten ergibt sich bei diesem Ansatz, dass als Ergebnis ein Konflikt erkennbar wird, den zu verarbeiten und aufzulösen dem Patienten bisher nicht gelungen ist. Diese Konflikte können ganz unterschiedlicher Qualität sein und brauchen keineswegs immer nur zwischenmenschlich zu sein; sie können auch der Welt der Ideen entstammen, dann begründet die individuelle Unfähigkeit, diese Art Konflikte aus der Welt zu schaffen, Leiden und Krankheit. Die Konfliktbewältigung, die Patient und Arzt gemeinsam versuchen, hat also Grenzen. Sie machen deutlich, dass es kein Leben ohne Krankheit gibt und vermitteln dem Arzt: „Die Therapie ist überhaupt kein endlicher Vorgang. Ihr praktischer Realismus bedeutet, dass sie das Unzulängliche annimmt und die ewige Naivität der Krankheit, als ihr eigentliches Geheimnis, respektiert.“ [2].

Der Name Viktor von Weizsäckers dürfte in einer Zeit, in der das Fach „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ bereits seit Jahren Bestandteil des Kanons der klinischen Ausbildung ist, den Studierenden der Humanmedizin nicht völlig unbekannt sein. Es steht aber zu vermuten, dass die Lektüre seiner Schriften und Vorträge nicht denselben Bekanntheitsgrad besitzen, von der Rezeption der Inhalte ganz zu schweigen. Daher ist es zu begrüßen, dass diese Zusammenstellung von Publikationen und Vorlesungen aus dem Gesamtoeuvre Viktor von Weizsäckers erfolgt ist und Studierenden und Interessierten zugänglich gemacht wurde. Sie stellt exemplarisch die Themen und Gedanken von Weizsäckers vor und vermittelt so die Breite und Aktualität seines Ansatzes.

Dem Herausgeber, W. Rimpau, ist die umsichtige, repräsentative Auswahl der Schriften zu danken. Es bleibt zu hoffen, dass die akademische Ausbildung in der „Psychosomatischen Medizin“ sich aufs Neue mit den hier dargelegten Inhalten befasst und sie, wie der Titelzusatz, „Ein Lesebuch“, andeutet, in den Kontext der Lehre einbezieht.


Literatur

1.
von Weizsäcker V. Meines Lebens hauptsächliches Bemühen. In Schrank M, Janz D, Achilles P, von Weizsäcker V (Hrsg). Gesammelte Schriften 7. Allgemeine Medizin, Grundfragen medizinischer Anthropologie. Berlin: Suhrkamp; 1955. S.48.
2.
von Weizsäcker V. Meines Lebens hauptsächliches Bemühen. In Schrank M, Janz D, Achilles P, von Weizsäcker V (Hrsg). Gesammelte Schriften 7. Allgemeine Medizin, Grundfragen medizinischer Anthropologie. Berlin: Suhrkamp; 1955. S.57