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GMS Medizin — Bibliothek — Information.

Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB)

ISSN 1865-066X

Bibliothekarischer Mainstream oder Profilbildung als Chance?

Library mainstream versus the challenge of developing a profile

Fachbeitrag

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GMS Med Bibl Inf 2013;13(1-2):Doc10

doi: 10.3205/mbi000274, urn:nbn:de:0183-mbi0002749

Veröffentlicht: 13. September 2013

© 2013 Kortschak.
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Zusammenfassung

Der Beitrag setzt sich in kritischer Form mit aktuellen bibliothekarischen Trends und Entwicklungen auseinander. Gleichzeitig versucht er, ausgehend von individuellen Lösungsansätzen an der Medizinischen Universität Graz, die Besonderheiten medizinischer Spezialbibliotheken zu analysieren und alternative Strategien zu evozieren.

Schlüsselwörter: Bibliothek – Profilbildung, Medizinische Universität Graz

Abstract

This article undertakes a critical look at ongoing library trends and developments. At the same time it attempts to analyse the specifics of medical special libraries and to map out alternative strategies based on individual approaches at the Medical University Graz.

Keywords: library profile, Medical University Graz


Mainstream

Der bibliothekarische Diskurs kreist auf der Suche nach Selbstlegitimation in der neu formierten Informationsgesellschaft um die „großen Themen“. Open Access, Patron Driven Aquisition, Discovery and Delivery, Repositories und weitere von Anglizismen geprägte Begriffe sollen den generellen Modernisierungsgeist der Bibliotheken demonstrieren. Immer intransparentere und der neoliberalistischen Wirtschaftssprache angepasste Akronyme wie ILS, URM, WMS, LOD, OAI usw. vermitteln den Eindruck mystischer Professionalität und ersetzen die oftmals über Jahrzehnte gewachsene und allen vertraute Terminologie der Bibliotheken. (Dieses Phänomen führt heute dazu, dass jede umfangreichere Publikation ohne Begriffserklärung nicht mehr auskommt. Vgl. z.B. [1], S. 70 ff). Das elektronische Archiv mutiert verbal zum Repository, der Bibliothekkatalog zum „Google like Suchschlitz“. Aber reicht das allein für eine strategische Weiterentwicklung?

Technische Angebote, die die Begehrlichkeiten der neuen Lesergeneration alles, überall, jederzeit, kostenlos und ohne viel nachzudenken zu erhalten, unterstützen, führen zu neuen bibliothekarischen Strategien, die mehr oder minder apodiktisch verbreitet werden. Ein offensiver Softwaremarkt bietet den Bibliotheken All-Inklusiv-Lösungen an, die „…die Bibliotheken in ihren täglichen Arbeitsabläufen so effektiv wie möglich unterstützen. Arbeitsschritte sollen weitestgehend automatisiert werden und so wenig Zeit wie möglich kosten. Die über das ‚business intelligence‘ Werkzeug bereitgestellten Datenanalysen unterstützten das Bibliotheksmanagement bei einer möglichst effizienten Mittelverwaltung und bei der Optimierung der internen Arbeitsabläufe und Geschäftsstrukturen.“ ([1], S. 87)

Sind das die kommenden Herausforderungen für die wissenschaftlichen Bibliotheken, die sich dann alle glücklich in der Cloud wieder treffen?


Tatsachen

Die Auseinandersetzung mit strategischen Zielen ist für die österreichischen Universitätsbibliotheken ganz eng mit dem Universitätsgesetz 2002 verbunden. Trotz hoher Eigenständigkeit der Universitäten erfolgt die Finanzierung weiterhin aus Bundesmitteln, allerdings unter der Prämisse der Leistungsvereinbarung und der Qualitätssicherung. „Inhalt der Leistungsvereinbarung ist insbesondere: 1. die von der Universität zu erbringenden Leistungen, die entsprechend den Zielen, leitenden Grundsätzen und Aufgaben der Universität in folgenden Bereichen festzulegen sind: a) strategische Ziele, Profilbildung, Universitäts- und Personalentwicklung.“ ([2], S. 22 §13(2)).

Mit der Leistungsvereinbarung eng verknüpft ist das Berichtswesen in der Wissensbilanz ([2], S. 26ff).

„Das Grundbudget wird als Grundfinanzierung auf Grund der Leistungsvereinbarung festgelegt. Folgende Kategorien bilden die Basis für die Verhandlung und sind für die Bemessung des Grundbudgets maßgebend. a) Bedarf, b) Nachfrage, c) Leistung, d) gesellschaftliche Zielsetzungen“ ([2], S. 25).

Im Sinne einer über Jahre gewachsenen Unternehmenskultur findet die Bibliothek der Medizinischen Universität Graz hier den Rahmen um Entwicklungsziele zu definieren, diese den Entscheidungsträgern zu vermitteln, gemeinsam mit ihnen zu diskutieren und die Rahmenbedingungen zur Umsetzung zu schaffen.

Die Vorhaben und Ziele der Bibliothek, die man online in der Wissensbillanz 2012 ([3], S. 89–92) und der Leistungsvereinbarung 2013–2015 ([4] S. 71–72) nachlesen kann, sprechen natürlich teilweise die sogenannten „großen Themen“ an, da sich niemand den allgemeinen Tendenzen entziehen kann oder entziehen möchte. Im Vordergrund steht aber dabei stets eine analytische, inhaltliche Auseinandersetzung, die im Sinne der Profilbildung versucht, zu bewerten, was – unabhängig vom Mainstream – in welcher Form für die eigene Institution relevant ist.


Haben oder brauchen – drei Beispiele

Eins: E-Books hat man heute: Und doch verlieren in der Medizin Bücher, im Gegensatz zu den elektronischen Zeitschriften, die für die wissenschaftliche Forschung und Patientenbetreuung das unverzichtbare Medium sind, generell an Bedeutung. Diese Verschiebung lässt sich ganz deutlich – auch ohne große „business intelligence“ Werkzeuge – aus den Budgetentwicklungen der letzten Jahre ablesen. Klar definierte Bestandprofile, die in Kooperation mit den Lehrenden als Ergänzung zu den elektronischen Lernplattformen für die Lehrbuchsammlung erstellt werden, gelangen beim derzeitigen E-Book Angebot rasch an die Grenzen. Lizenzmodelle für ausgewählte Titel, die die angestrebte Topaktualität gewährleisten sind rar und träge. Manche Verlage bauen bewusst oder unbewusst einen Verzögerungseffekt ein, der dazu führt, dass das gedruckte Buch oft schon mehrfach ausgeliehen ist, bevor der Online-Zugang funktioniert. Kaufen kann man meist nur riesige, unbeeinflussbare Verlagspakete, in denen dann nur ganz wenige Titel als Durchschnittsquotenbringer fungieren. Nicht normierte Statistikmethoden verfälschen Nutzungszahlen, die eine objektiv bedarfsgerechte Erwerbsstrategie aushebeln. Es kann nicht Ziel sein, 135 Titel kaufen zu müssen, um acht zu bekommen, die man brauchen würde.

Die neu aufkeimende Politik der Verlage den Bibliotheken nur die zweitbeste elektronische Version zu verkaufen, weil man für Neuentwicklungen wie Apps gar keine institutionellen Angebote legt, führt zu großer Skepsis. Solange hier keine neuen, wirklich praktikablen Geschäftsmodelle entstehen und man auch die Bestandsauswahl nicht dem Zufall einer so hoch gelobten Parton Driven Aquisition überlassen möchte, wird die gedruckte Ausgabe nicht so rasch aus den Lehrbuchsammlungen verschwinden. Und wenn man den Lesern glaubt, werden sich bei einer vernünftigen Zahl von Exemplaren in der Lehrbuchsammlung die Klagen auch in Zukunft in Grenzen halten, weil in der Medizin immer noch viele gerne mit dem Buch lernen.

Zwei: Discovery and Delivery: „Eine neue Anwendungserfahrung: Macht Spaß, ist schnell und exakt.“ (Das verspricht uns die Werbebroschüre eines großen Bibliothekssoftware-Anbieters.)

Ersetzen heute Spaß und Schnelligkeit die Relevanz einer strukturierten Literatursuche im Wissenschaftsbetrieb und verschwindet die Nachvollziehbarkeit der Exaktheit der Ergebnisse im Geheimnis einer Suchmaschinentechnologie, die vergeblich dem großen Vorbild Google nacheifert?

Das Qualitätsmerkmal bibliothekarischer Daten, die auf Grund ihrer klaren Regelwerke mit einfachen Mitteln sehr selektive Ergebnisse ermöglichen, verschwindet in der Allmacht der „Ressourcenoptimierung“. Wie schön, dass es in der Medizin so etwas wie Pubmed gibt, eine Datenbank, die angereichert mit den bibliothekseigenen Beständen circa 80% der wissenschaftlichen Recherchen bedeckt und den klassischen Bibliothekskatalog noch eine Weile als praktikable Ergänzung leben lässt.

Drei: Open Access ist das Bibliotheksthema: Die euphorische Aufbruchsstimmung, die mit der Berliner Deklaration eingeleitet wurde und viele mehr oder weniger idealistische Ansätze hervor gebracht hat, wird mittlerweile durch kritische Stimmen aus den Kreisen der Wissenschaft gebremst. Mit dem Finch Report [5] liegt erstmals eine umfassende Studie vor, die deutlich belegt, dass dieses Thema die gesamte Scientific Community betrifft und die Bibliotheken allein keine Lösungen finden werden. Integrative Ansätze in den einzelnen Universitäten, die Wissenschaft, Forschungsmanagement, Forschungsdokumentation, Forschungsevaluierung und Bibliotheken zusammenführen und neben operativen Konzepten auch Diskurse und Dialoge fördern, nehmen vermeintlich den Bibliotheken die Oberhoheit aus der Hand. Dafür erhalten sie jenes Feedback, das sie dringend brauchen, um nicht im Mainstream die Risiken des Gesamtvorhabens zu unterschätzen. „Es gab mit dem Aufkommen des Internets Mitte der 1990er-Jahre die Chance, mit der Gründung von qualitätsvollen freien elektronischen Journalen, ein Gegengewicht zu den immer teurer werdenden kommerziellen Journalen zu schaffen.“ Diese Chance wurde (mit wenigen Ausnahmen) vertan [6]. Diese Skepsis werden die Bibliotheken nicht alleine wiederlegen können.


Glückliche Spezialbibliothek

Auch wenn Medizinbibliotheken viel Geld in die Hand nehmen müssen, um sich die wissenschaftliche Literatur leisten zu können, so sind sie bei strategischen Entwicklungen tatsächlich „glückliche Spezialbibliotheken.“ Die Überschaubarkeit des Wissensgebietes und die hohe Professionalität des frei verfügbaren Angebotes – man denke nur, dass es mit Pubmed Europe und Pubmed Central bereits jetzt riesige Open Access Repositorien gibt, die durch die Datenbank Pubmed umfassend erschlossen sind, geben Spielraum für die Profilbildung.

Die Probleme, mit denen die großen Universalbibliotheken zu kämpfen haben, um die vielschichtigen Wissensgebiete zusammenfassend zu erschließen, minimieren sich deutlich. Experiment, Kreativität und analytische Auseinandersetzung zur spezifischen Weiterentwicklung der einzelnen Bibliothek, finden eher Platz. Die Kleinheit als Chance näher an der Zielgruppe zu sein, erlaubt es mitunter auch gegen den Mainstream Entscheidungen zu treffen und Lösungen zu erarbeiten, die für diesen einen speziellen Ort einfach passen. Dialog, Erfahrungsaustausch, Kooperation und Respekt vor den unterschiedlichen Anforderungen an jede einzelne Bibliothek können dazu beitragen, dass man in der Vielfalt die Chance erkennt.


Anmerkung

Interessenkonflikte

Die Autorin erklärt, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

1.
Kemner-Heek K. Konzeption und Angebot zukünftiger Bibliotheksmanagementsysteme: Bestandsaufnahme und Analyse. Köln: Fachhochschule Köln, Fakultät für Informations- und Kommunikationswissenschaften, Institut für Informationswissenschaft; 2012. (Kölner Arbeitspapiere zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft; 64)
2.
Kasparovsky H, Perle C [Bearb.]. Universitätsgesetz 2002. Stand: 1. November 2009. Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung; 2009.
3.
Medizinische Universität Graz. Wissensbilanz 2012 der Medizinischen Universität Graz. Mitteilungsblatt der medizinischen Universität Graz. 05.06.2013. Verfügbar unter: https://online.medunigraz.at/mug_online/wbMitteilungsblaetter.display?pNr=97738 Externer Link
4.
Medizinische Universität Graz. Leistungsvereinbarung 2013-2015. Mitteilungsblatt der medizinischen Universität Graz. 09.01.2013. Verfügbar unter: https://online.medunigraz.at/mug_online/wbMitteilungsblaetter.display?pNr=83261 Externer Link
5.
Finch J. Accesibility, sustainability, excellence: how to expand access to research publications. Report of the Working Group on Expanding Access to Published Research Findings. June 2012. Available from: http://www.researchinfonet.org/wp-content/uploads/2012/06/Finch-Group-report-FINAL-VERSION.pdf Externer Link
6.
Krattenthaler C. Open Access? Internationale Mathematische Nachrichten. 2013;(222):1.