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EuroScan international network e. V. (EuroScan)

ISSN 2698-6388

Wirksamkeit von Ergotherapie bei mittlerer bis schwerer Demenz

Kurzbeitrag

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  • corresponding author Dieter Korczak - GP Forschungsgruppe, Institut für Grundlagen- und Programmforschung, München, Deutschland
  • author Carola Habermann - Berufsfachschule für Ergotherapie Rosenheim der bfz gGmbH, Rosenheim, Deutschland
  • Sigrid Braz - GP Forschungsgruppe, Institut für Grundlagen- und Programmforschung, München, Deutschland

GMS Health Technol Assess 2013;9:Doc09

doi: 10.3205/hta000115, urn:nbn:de:0183-hta0001156

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/hta/2013-9/hta000115.shtml

Veröffentlicht: 5. August 2013
Veröffentlicht mit Erratum: 8. August 2013

© 2013 Korczak et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.

Der vollständige HTA Bericht in deutscher Sprache ist verfügbar unter: http://portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta343_bericht_de.pdf


Zusammenfassung

Bei mittlerer bis schwerer Demenz wirkt eine an die Betroffenen angepasste Ergotherapie. Ergotherapie setzt gezielt Aktivitäten als Behandlungsmaßnahme ein. Ziel ist eine möglichst hohe Lebensqualität im Alltag – auch ohne Medikamente. Geistige Leistungsfähigkeit und Selbstständigkeit im Alltag sollen dazu möglichst lange aufrechterhalten werden. Ergotherapie kann kostengünstiger sein als eine medikamentöse Behandlung, da sie den medizinisch-pflegerischen Aufwand reduziert.

Schlüsselwörter: Demenz, Ergotherapie, Lebensqualität, Medikamente, Therapie


Kurzfassung

Gesundheitspolitischer Hintergrund

Es wird prognostiziert, dass sich die Anzahl dementer Personen von gegenwärtig rund 1,45 Millionen bis zum Jahr 2050 voraussichtlich verdoppeln wird. Aufgrund dieser zahlenmäßigen Entwicklung und der durch die Erkrankung ausgelösten Problematik für Betroffene, ihre Angehörigen, die Betreuungspersonen, Therapeuten und Ärzte stellt die Behandlung demenzieller Erkrankungen und die Betreuung insbesondere von Personen mit mittlerer und schwerer Demenz eine große menschliche, gesellschafts- und gesundheitspolitische Herausforderung dar. Gegenwärtig wird der Einsatz von Ergotherapie zur Behandlung der Demenz von verschiedenen nationalen und internationalen Leitlinien mit Einschränkungen empfohlen.

Wissenschaftlicher Hintergrund

Unter dem Begriff Demenz werden unterschiedliche Erkrankungen subsumiert, die sich meist als chronische und/oder fortschreitende Krankheit des Gehirns mit Störung höherer kortikaler Funktionen manifestieren. Durch den Einsatz der Ergotherapie wird eine Stärkung dementer Personen in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit/Erholung angestrebt. Dadurch soll die Handlungsfähigkeit im Alltag, die gesellschaftliche Teilhabe sowie die Lebensqualität und -zufriedenheit dementer Menschen verbessert werden.

Die ergotherapeutischen Behandlungsverfahren sind in der Heilmittelrichtlinie als Maßnahmen der psychisch-funktionellen Behandlung, des Hirnleistungstrainings und der neuropsychologisch orientierten Behandlung, der sensomotorisch-perzeptiven sowie der motorisch-funktionellen Behandlung beschrieben.

Forschungsfragen

Die klinische Fragestellung dieses Berichts befasst sich mit der vergleichenden Bewertung des Einsatzes und der Effektivität ergotherapeutischer Verfahren bei der Behandlung von Menschen mit mittlerer bis schwerer Demenz. Gegenstand ist auch die Frage, ob die Krankheitsprogression bei mittlerer Demenz durch Ergotherapie gebremst werden kann.

Bei der ökonomischen Betrachtung des Einsatzes von Ergotherapie stellt sich die Frage, wie kosteneffektiv Ergotherapie in der Behandlung von Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz ist. Unter ethisch-sozialen Gesichtspunkten interessiert, inwieweit die Lebensqualität von Menschen mit mittlerer und schwerer Demenz durch Ergotherapie verbessert wird.

Methodik

Der Health Technology Assessment (HTA)-Bericht hat das Ziel, die verfügbare Evidenz zur Wirksamkeit der Ergotherapie bei Personen mit mittlerer und schwerer Demenz zusammenzufassen. Zu diesem Zweck sind zwischen März und November 2012 systematische Literaturrecherchen in 32 elektronischen Datenbanken (u. a. MEDLINE, Cochrane, EMBASE) sowie zusätzlich in der CINAHL-Datenbank und außerdem eine Handrecherche durchgeführt worden. Bei diesen Recherchen wurden die Suchbegriffe Demenz und Ergotherapie sowie ihre sprachlichen Äquivalente und einzelne Therapieverfahren in deutscher und englischer Sprache verknüpft. Die Suche erstreckte sich auf alle Publikationen in Deutsch und Englisch, die ab 2007 erschienen sind. Dieser Zeitraum wurde gewählt, um die Ergebnisse verschiedener Reviews von 2007 zu aktualisieren.

Die Auswahl der Studien erfolgte separat durch zwei Wissenschaftler unter Berücksichtigung der vorab definierten Ein- und Ausschlusskriterien.

Medizinische Forschungsergebnisse

Elf medizinische Studien entsprechen den formalen und inhaltlichen Anforderungen (externe und interne Validitätsprüfung). Die Studien haben aufgrund ihres Studiendesigns (fünf systematische Reviews, sechs randomisierte kontrollierte Studien [RCT]) einen hohen Evidenzlevel. Es ist jedoch bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen, dass das Biasrisiko bei neun der elf Studien hoch ist. Die Studien sind hinsichtlich der demografischen Zusammensetzung der Studienpopulationen, des Studiendesigns sowie der Interventionen sehr heterogen. Eine differenzierte Analyse der Wirkung der Interventionen nach mittlerer und schwerer Demenz fehlt zumeist. Neun der elf Studien belegen die Wirksamkeit des Einsatzes von Ergotherapie. Bei zwei Studien ist das Ergebnis unklar oder ohne signifikanten Therapieerfolg.

Von den vorliegenden Studien beschäftigen sich nur vier vorwiegend mit der mittleren und schweren Verlaufsform der Demenz. Bei der überwiegenden Mehrheit der Studien werden Follow-up-Untersuchungen zwischen sechs und zwölf Wochen oder höchstens nach sechs Monaten durchgeführt. Die genannten Zeiträume sind zu kurz, um über eine Verzögerung der Krankheitsprogression zu urteilen.

Die Studien präsentieren Ergebnisse zur Wirksamkeit kognitiver und sensorischer Stimulation, von physischem Training, von Validationstherapie, von Interventionen zur Verbesserung der Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) und des Umfelds (Milieu) sowie zur Beratung von Angehörigen und Betreuern. Multikomponentenprogrammen der Ergotherapie, die verschiedene Interventionen kombinieren und auch die Angehörigen und Betreuer einbeziehen, wird eine effektive Wirkung zugeschrieben.

Kognitive Interventionen in Kleingruppen scheinen bei Patienten mit leichter und mittlerer Demenz wirksam zu sein. Bei einer Studie zum frühen Stadium der Alzheimer-Demenz zeigt das Follow-up nach sechs Monaten im kognitiven Bereich anhaltende Wirkung. Im fortgeschrittenen Stadium der Demenz zeigen kognitive Interventionen nur noch geringe Effekte. Sensorische Stimulation weist in allen drei Stadien der Demenz Effekte auf unterschiedliche Parameter auf, wie z. B. das Verhalten. Funktions- und Fertigkeitstraining, das in verschiedene Aktivitäten eingebunden ist, wirkt bei dementen Menschen (ohne genaue Klassifikation der Schweregrade). Die Validationstherapie hat nach den vorhandenen Studienergebnissen geringe und nicht ausreichende Effektstärken auf das Verhalten. Ein strukturiertes aktivierungsorientiertes Konzept und auch die Angehörigenberatung zeigen positive Wirkung bei dementen Menschen. Eine weitere Studie stellt eine anhaltende Wirkung anhand Interviews mit den Angehörigen fest. Diese werden nach 52 Wochen nach der Qualität der Durchführung der ADL befragt. Allerdings gilt diese Studie nicht exakt für die gewünschte Zielgruppe, sondern für Menschen mit leichter bis mittlerer Demenz.

Ökonomische Ergebnisse

Zwei von drei gesundheitsökonomischen Studien belegen die Kosteneffektivität von Ergotherapie. Außerdem weist ein Review darauf hin, dass durch Ergotherapie eine Heimeinweisung um 1½ Jahre verzögert werden kann und dadurch Kosten reduziert. Eine Studie, die den geforderten Schweregrad der Demenz mit mittlerem bis schwerem Verlauf berücksichtigt, weist nach, dass ein strukturiertes ergotherapeutisches Programm zu geringen Kosten aufgrund der Zeitersparnisse bei den Familienbetreuern kommt und im Vergleich zum Einsatz eines professionellen Betreuers kostengünstiger ist. Eine Studie, die leichte bis mittelschwere Fälle berücksichtigt, zeigt ebenfalls im Vergleich, dass der Aufwand für ergotherapeutische Interventionen günstiger ist als der Kostenaufwand, der durch ärztliche, pflegerische und familiäre Betreuung entstehen würde.

Ethische/soziale Ergebnisse

Ethische und soziale Fragestellungen nach dem richtigen Maß von Nähe und Distanz zwischen Therapeuten und Patienten oder den Grenzen des therapeutischen Eingreifens sind nicht Gegenstand der Studien. Als zentrales Ergebnis zeigt sich jedoch in den Studien, dass sich durch Ergotherapie durchgängig die Lebensqualität dementer Personen verbessert.

Diskussion

Lediglich vier Reviews befassen sich gezielt mit dem Einsatz von Ergotherapie bei mittlerer und schwerer Demenz, die anderen Studien enthalten Untersuchungspopulationen mit leichter und mittlerer Demenz. In der Regel erfolgt keine differenzierte Auswertung der Ergebnisse nach den einzelnen Stadien der Demenz. Die Effekte der Interventionen sind daher schwer zu beurteilen. Insbesondere bei Multikomponentenprogrammen wird der Effekt einzelner Maßnahmen nicht differenziert dargestellt. Elf der 14 Studien belegen die Wirksamkeit von Ergotherapie. Einschränkend ist jedoch anzumerken, dass die nicht ausgewiesene Differenzierung einzelner Demenzgrade im Bereich der mittleren und schweren Demenz ein generelles Manko der Studien ist.

Schlussfolgerung

Die Studienlage zur Erforschung der Wirksamkeit von Interventionen bei mittlerer und schwerer Demenz ist mit Mängeln versehen. Insgesamt ist die Tendenz erkennbar, dass Ergotherapie, wenn sie mit strukturierten und patientenzentrierten Interventionen durchgeführt wird, eine Wirkung zeigt, vor allem auf die Lebensqualität und die Affekte der Patienten und ihrer Angehörigen sowie auf Anteile bestimmter Funktionen.

Die Durchführung weiterer Studien wird empfohlen, die die Diagnose der Demenz über dafür vorgesehene psychometrisch aussagekräftige Instrumentarien vornehmen mit einer eindeutigen Klassifikation der Schweregrade. Weiterhin ist es sinnvoll, sich in der Forschungsfrage auf eine präzise beschriebene Interventionsform mit normiertem Behandlungsparadigma zu beschränken.

Trotz der festgestellten Mängel in der Studienlage kann Ergotherapie als Mittel zur Verbesserung von Symptomen der Demenz mit Einschränkungen empfohlen werden. Ergotherapie ist zudem eine kostengünstige Behandlungsform im Vergleich zur medikamentösen Therapie oder zum drohenden erhöhten medizinisch-pflegerischen Aufwand.


Anmerkungen

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.

INAHTA-Checkliste

Checkliste für HTA-bezogene Dokumente (Anhang 1 [Anh. 1]).



Erratum

Der Artikel wurde zuerst mit dem englischen Titel: "Effectiveness of ergotherapy for patients with moderate to severe dementia" veröffentlicht. "Ergotherapy" wurde in den englischen Keywords und dem Abstract durch "occupational therapy" ersetzt.