gms | German Medical Science

GMS Health Innovation and Technologies

EuroScan international network e. V. (EuroScan)

ISSN 2698-6388

Effektivität und Effizienz von psychologischen, psychiatrischen, sozialmedizinischen und komplementärmedizinischen Interventionen bei Schreibabys (z. B. regulative Störung) in Schreiambulanzen

Kurzbeitrag

Suche in Medline nach

  • corresponding author Dieter Korczak - GP Forschungsgruppe, Institut für Grundlagen- und Programmforschung, München, Deutschland
  • author Christine Kister - GP Forschungsgruppe, Institut für Grundlagen- und Programmforschung, München, Deutschland
  • author Cornelia Krause-Girth - Hochschule Darmstadt, Fachbereich Sozialpädagogik, Darmstadt, Deutschland

GMS Health Technol Assess 2013;9:Doc03

doi: 10.3205/hta000109, urn:nbn:de:0183-hta0001090

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/hta/2013-9/hta000109.shtml

Veröffentlicht: 23. April 2013

© 2013 Korczak et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.

Der vollständige HTA Bericht in deutscher Sprache ist verfügbar unter: http://portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta338_bericht_de.pdf


Zusammenfassung

Es gibt verschiedene Ansätze, die exzessives Schreien bei Kindern verringern sollen. Für einzelne Maßnahmen jedoch belegen Studien positive Effekte: so können bestimmte Ernährungsveränderungen, Akupunktur oder psychologische Ansätze das Schreiverhalten verbessern. Zu den betrachteten Schreiambulanzen finden sich keine Studiendaten, die deren Wirksamkeit nachweisen.

Schlüsselwörter: Schreibaby, exzessives Schreien, kindliche Regulationsstörung, Kolik, Wessel


Kurzfassung

Gesundheitspolitischer Hintergrund

Exzessives Schreien gehört zu den Regulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter (null bis drei Jahre). Dabei kann unterschieden werden zwischen dem meist passageren Schreien der ersten drei Monate (Drei-Monats-Kolik) und den darüberhinaus anhaltenden Regulationsstörungen. Hinter dem exzessiven Schreien verbergen sich eine ernst zu nehmende Belastung und Gefährdung für die kindliche Entwicklung, die psychische Gesundheit der Kinder sowie das Kindeswohl im Allgemeinen. Um langfristige negative Auswirkungen für Kinder und Eltern zu verhindern, bedarf es einer frühzeitigen Identifizierung von überlasteten Familien und eines adäquaten Hilfsangebots. Hierfür wird eine funktionierende Zusammenarbeit von Kinderärzten, Kliniken, Beratungsstellen, Jugendhilfe und gemeindenahen Interventionsformen – insbesondere im Bereich „Früher Hilfen“ – als erforderlich erachtet.

Wissenschaftlicher Hintergrund

Als Schreibabys gelten Säuglinge, die an mehr als drei Tagen in der Woche mehr als drei Stunden lang weinen und dies mindestens drei Wochen lang tun (nach der Definition des amerikanischen Pädiaters Morris Wessel). Für das exzessive Schreien von Säuglingen liegen unterschiedliche Erklärungsansätze vor und daraus resultierend unterschiedliche Behandlungsansätze. Im Wesentlichen wird das exzessive Schreien entweder auf kolikartige Zustände des noch unreifen Gastrointestinaltrakts zurückgeführt oder als Symptom einer Kopfgelenk-induzierten Symmetriestörung (KISS-Syndrom) oder als frühkindliche Regulationsstörung verstanden, die in enger Beziehung zu der Eltern-Kind-Situation steht. Dementsprechend werden zur Behebung der Koliken orale Interventionen und Akupunktur eingesetzt, zur Behebung eines KISS-Syndroms Chiropraxis und für die Bearbeitung der frühkindlichen Regulationsstörungen psychotherapeutische Ansätze. Die Ursachen von frühkindlichen Verhaltensregulationsstörungen sind multifaktoriell bedingt und können weder als rein medizinisches noch als rein psychosoziales Problem angesehen werden. Die Entstehung dieser Symptome ist vielschichtig und meist bedingt sowohl durch biologische Risikofaktoren auf der Seite des Kindes und durch psychosoziale Bedingungen auf der Seite der Eltern als auch durch fehlende Unterstützung des sozialen Umfelds. Die Gründe für das exzessive Schreien lassen sich meistens nicht auf eines dieser Probleme zurückführen, sondern vielmehr auf das Zusammenwirken der einzelnen Risiko- und Schutzfaktoren. Schreiambulanzen bieten ratsuchenden Eltern Diagnostik und Beratung im Umgang mit ihrem Kind und der meist angespannten familiären Situation an.

Medizinische Forschungsfragen

  • Wie effektiv sind pychologische, psychiatrische, sozial- und/oder komplementärmedizinische Interventionen bei Schreikindern und ihren Eltern?
  • Wie effektiv (bezüglich Inanspruchnahme und Zugang) sind Interventionen, die in Schreiambulanzen durchgeführt werden im Vergleich zu anderen Settings?

Ökonomische Forschungsfragen

  • Welche Kosten werden durch die Versorgung von Schreibabys verursacht?
  • Welche Einsparungen können durch frühzeitige Interventionen erzielt werden?

Ethische, soziale und juristische Forschungsfragen

  • Inwieweit ist die Versorgung und der Zugang zur Versorgung für Schreikinder und Eltern von Schreikindern gewährleistet?
  • Was muss getan werden, damit die Versorgung optimiert werden kann? Welche Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden?

Methodik

Es ist eine systematische elektronische Datenbankrecherche in 32 Datenbanken (unter anderem EMBASE, MEDLINE, PubMed) mit verschiedenen Suchbegriffen, wie z. B. Schreibabys, Schreikinder, frühkindliche Regulationsstörung, Schreiambulanz, durchgeführt worden. Es sind nur Interventions- oder Therapiestudien mit einer Fallzahl >30, in deutscher oder englischer Sprache, die ab 2001 erschienen sind, berücksichtigt worden. Die Evidenzbewertung der Studien ist nach den Evidenzgraden des Oxford Centre of Evidence-based Medicine erfolgt. Die methodische Qualität der Studien wird anhand von Checklisten der German Scientific Working Group Technology Assessment for Health Care bewertet.

Medizinische Forschungsergebnisse

18 Studien aus neun Ländern, davon jeweils fünf aus UK und aus den USA, befassen sich mit oralen, chiropraktischen, akupunkturellen und psychotherapeutischen bzw. auf das Verhalten bezogene therapeutischen Interventionen. Die Studien haben insgesamt einen hohen Evidenzlevel, 14 der Studien zwischen 1A und 2B. Die oralen Interventionen zeigen, dass sowohl eine phytotherapeutische Mischung aus Fenchel, Kamille und Melisse, eine Fenchelsamenemulsion, hydrolisierte Kost als auch ein Verzicht auf Kuhmilchprodukte das Schreien der Kinder signifikant reduziert. Des Weiteren legen die Studienergebnisse der beiden schwedischen Studien nahe, dass Minimalakupunktur die Schreidauer bei Säuglingen mit Koliken verkürzt und die Intensität des Schreiens vermindert. Widersprüchliche Ergebnisse existieren hinsichtlich der Effektivität chiropraktischer Anwendungen, zu denen nur Studien aus UK und den USA vorliegen. Die Wirksamkeit von auf das Verhalten bezogenen therapeutischen Interventionen sowohl hinsichtlich des Schreiverhaltens der Säuglinge als auch des Stressempfindens der Eltern wird belegt. Ausschlaggebender Faktor scheint die persönliche Unterstützung durch die beratende Fachkraft zu sein. Die Frage nach der Wirksamkeit von Schreiambulanzen kann nicht konkret beantwortet werden, da Schreiambulanzen nur in einem systematischen Review behandelt werden, das Ergebnisse von Studien in Kinderarztpraxen aus dem Zeitraum 1984 bis 1994 referiert.

Ökonomische Ergebnisse

Die einzige Studie, die sich explizit mit Kostenwirksamkeitsfragen befasst, ist in UK durchgeführt worden und steht methodisch auf schwachen Füßen. Die Resultate sind nicht für Deutschland verwendbar.

Ethische, soziale und juristische Ergebnisse

Es werden drei Studien identifiziert, die sich mit ethischen und sozialen Gesichtspunkten in Bezug auf frühkindliche Regulationsstörungen befassen. Eine Veröffentlichung beschreibt die Versorgungslage in Deutschland im Bereich der „frühen psychosozialen Interventionen“. Die anderen beiden Studien versuchen zu eruieren, ob und wenn ja welche Risikofaktoren das Entstehen des exzessiven Schreiens bei Säuglingen begünstigen. Die deutsche Studie zeigt, dass sich die Anzahl und Merkmale der Frühinterventionsangebote regional stark unterscheiden und dass eine hohe Diskrepanz zwischen der durchschnittlichen Versorgungsrate von 1,2% und den Prävalenzzahlen frühkindlicher Regulationsstörungen (2,5% bis 16,6%) vorliegt. Die Ergebnisse zu möglichen Risikofaktoren sind widersprüchlich. Eine Schweizer Studie kommt zu dem Schluss, dass frühkindliche Regulationsstörungen mit dem physischen und psychischen Zustand sowie mit den sozialen Bedingungen der Mütter assoziiert sind, eine englische Studie findet keine entsprechenden Zusammenhänge.

Diskussion

Trotz eines formal hohen Evidenzniveaus der Mehrheit der Studien weisen viele Studien methodische Schwächen auf. Exzessives Schreien wird nicht in allen Studien nach den Wessel-Kriterien definiert. Die Vergleichbarkeit von Interventions- und Kontrollgruppen ist öfter eingeschränkt, teilweise fehlen Kontrollgruppen gänzlich. Die Drop-out-Quote ist in mehreren Studien hoch. Überwiegend werden in den systematischen Reviews nur wenige Studien eingeschlossen, die Auswahl- und Bewertungskriterien sind nicht immer nachvollziehbar. Es sind keine Subgruppenanalysen nach unterschiedlichen Altersmonaten der Babys durchgeführt worden. In mehreren Studien ist es fraglich, ob die beobachteten Effekte auf die vorgenommene Intervention zurückzuführen sind oder ob ein Hawthorne-Effekt vorliegt. Die Studien werden insgesamt der Vielschichtigkeit der frühkindlichen Regulationsstörungen und des exzessiven Schreiens nur unzureichend gerecht. Es fehlen eindeutig aktuelle Studien, die dieses Manko aufheben und sich darüberhinaus mit der Wirksamkeit von Interventionen in Schreiambulanzen befassen.

Schlussfolgerung

Die Forschungslage zur Effektivität der Behandlung und Versorgung von Schreibabys weist erhebliche Lücken auf. Aber es gibt hinreichende Evidenz für die Wirksamkeit von gezielten oralen Interventionen mit Fenchel(samen), hydrolisierter Kost oder minimaler Akkupunktur zur Behandlung von Drei-Monats-Koliken.

Auf das Verhalten bezogene therapeutische Interventionen im stationären Setting, dem häuslichen Umfeld und auch bei ambulanter Betreuung reduzieren exzessives Schreien ebenfalls effektiv. Es liegen nicht genügend belastbare Daten und/oder Studien zur Wirksamkeit von Schreiambulanzen und der Kosten-Nutzen-Effektivität der Behandlung von Schreibabys und/oder ihren Eltern vor.

Es lässt sich festhalten, dass die Versorgung und der Zugang zur Versorgung von Schreikindern und ihren Eltern in Deutschland nicht entsprechend dem geschätzten Bedarf gewährleistet ist. Zur Verbesserung der Versorgungslage von Kindern und Eltern ist ein qualitativer Ausbau sowohl der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften als auch von niedrigschwelligen Strukturen erforderlich.


Anmerkungen

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.

INAHTA-Checkliste

Checkliste für HTA-bezogene Dokumente (Anhang 1 [Anh. 1]).