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GMS Health Innovation and Technologies

EuroScan international network e. V. (EuroScan)

ISSN 2698-6388

Zahnmedizinische Indikationen für standardisierte Verfahren der instrumentellen Funktionsanalyse unter Berücksichtigung gesundheitsökonomischer Gesichtspunkte

HTA-Kurzfassung

  • corresponding author Peter Tinnemann - Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité – Universitätsmedizin, Berlin, Deutschland
  • Yvonne Stöber - Universität Hannover, Institut für Versicherungsbetriebslehre – Forschungsstelle für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung, Hannover, Deutschland
  • author Stephanie Roll - Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité – Universitätsmedizin, Berlin, Deutschland
  • Christoph Vauth - Universität Hannover, Institut für Versicherungsbetriebslehre – Forschungsstelle für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung, Hannover, Deutschland
  • author Stefan N. Willich - Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité – Universitätsmedizin, Berlin, Deutschland
  • author Wolfgang Greiner - Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Deutschland

GMS Health Technol Assess 2010;6:Doc06

doi: 10.3205/hta000084, urn:nbn:de:0183-hta0000844

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/hta/2010-6/hta000084.shtml

Veröffentlicht: 27. April 2010

© 2010 Tinnemann et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.

Der vollständige HTA Bericht in deutscher Sprache ist verfügbar unter: http://portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta256_bericht_de.pdf


Zusammenfassung

Hintergrund

Neben der klinischen Untersuchung und bildgebenden Verfahren werden instrumentelle Funktionsanalysen als Untersuchungsverfahren bei kraniomandibulären Funktionsstörungen (Fehlregulationen der Muskel- oder Kiefergelenkfunktion) durchgeführt. Die instrumentellen Funktionsanalysen sind derzeit nicht im Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) abrechnungsfähig und weisen ausgesprochene Praxisvariabilität auf.

Fragestellung

Im Rahmen dieser Arbeit soll auf der Basis der derzeitigen publizierten wissenschaftlichen Evidenz festgestellt werden, wie aussagekräftig (valide) die instrumentelle Funktionsanalyse zur Diagnose kraniomandibulärer Funktionsstörungen im Vergleich zu klassischen Untersuchungsverfahren ist; ob sich verschiedene Formen der instrumentellen Funktionsanalyse unterscheiden; ob dabei eine Abhängigkeit von anderen Faktoren besteht; und ob weiterer Forschungsbedarf besteht. Außerdem sollen die Kosten-Effektivität der instrumentellen Funktionsanalyse im Zusammenhang gesundheitspolitischer Entscheidungen analysiert werden sowie soziale, juristische und ethische Implikationen Beachtung finden.

Methodik

Die Literaturrecherche erfolgt in über 27 Datenbanken sowie per Handrecherche. Relevante Unternehmen und Institutionen werden bezüglich unveröffentlichter Studien angeschrieben. Einschlusskriterien sind (i) diagnostische Studien zur Indikation „kraniomandibuläre Funktionsstörung“, (ii) Vergleich zwischen klassischer und instrumenteller Funktionsanalyse, (iii) Publikationen ab 1990, (iv) Publikationen in Englisch oder Deutsch. Die identifizierte Literatur wird von zwei Wissenschaftlern hinsichtlich inhaltlicher Relevanz und methodischer Qualität beurteilt.

Ergebnisse

Systematische Datenbankrecherchen ergeben 962 Treffer. Als Volltexte werden 187 medizinische und ökonomische Publikationen bewertet. Die Beurteilung aller Publikationen ergibt, dass weder für die medizinischen noch für die gesundheitsökonomischen Fragestellungen Studien eingeschlossen werden können.

Diskussion

Die uneinheitliche Terminologie kraniomandibulärer Funktionsstörungen und instrumenteller Funktionsanalysen führt zu einer breiten Literatur- sowie zu einer umfangreichen Handrecherche. Da keine relevanten Ergebnisse zur Beantwortung der Validität der instrumentellen im Vergleich zur klinischen Funktionsanalyse gefunden werden, ist es nicht möglich, relevante Aussagen zu den Forschungsfragen zu treffen.

Schlussfolgerung

Studien, die die instrumentelle Funktionsanalyse zur Diagnose von kraniomandibulären Funktionsstörungen im Vergleich zur klinischen Funktionsanalyse beurteilen, fehlen. Die instrumentelle Funktionsanalyse ist gegenüber der klinischen als Referenzstandard bisher nicht systematisch und unabhängig validiert. Es ist unklar, ob die Durchführung einer instrumentellen neben einer klinischen Funktionsanalyse empfehlenswert zur Diagnostik von kraniomandibulären Funktionsstörungen ist. Es besteht weiterhin unbedingter Forschungsbedarf.

Schlüsselwörter: kraniomandibuläre Funktionsstörung, instrumentelle Funktionsanalyse, klinische Funktionsanalyse, CMD, Kosten-Effektivität, Zahn, Funktionsanalyse, Kiefer, Kiefergelenk, Gesundheitsökonomie, Kieferorthopädie, Instrumente, Diagnose, Fehlbelastung, Befunderhebung, Mund, zahnmedizinische Versorgung, kraniomandibuläre Störungen, Ökonomie, Zahnheilkunde, Zahnmedizin, Kosten und Kostenanalyse, Kosteneffektivität


Kurzfassung

Gesundheitspolitischer Hintergrund

Der vorliegende HTA-Bericht (HTA = Health Technology Assesssment) evaluiert die derzeit verfügbare Evidenz für standardisierte Untersuchungsverfahren der instrumentellen Funktionsanalyse bei kraniomandibulären Funktionsstörungen oder kraniomandibulären Dysfunktionen (CMD) (Fehlregulationen der Muskel- oder Kiefergelenkfunktion) im Vergleich zur klassischen klinischen Funktionsanalyse. Im Folgenden verwenden die Autoren den übergeordneten Begriff CMD für alle Arten von Funktionsstörungen und -einschränkungen. Zahnmedizinische Diagnostik bei diesem Krankheitsbild basiert in der Regel auf einer klinischen Funktionsanalyse, bildgebenden Verfahren und gegebenenfalls einer instrumentellen Funktionsanalyse. Die Deutsche Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie empfiehlt bei Verdacht auf das Vorliegen einer CMD zunächst eine klinische Funktionsanalyse durchzuführen. Wenn sich im Rahmen der klinischen Funktionsanalyse Einschränkungen in der Kieferfunktion zeigen, soll anschließend eine instrumentelle Funktionsanalyse vorgenommen werden. In praxi werden umfangreiche Funktionsanalysen als Bestandteil prothetischer oder kieferorthopädischer Untersuchungen angewendet. Da die Funktionsanalyse nicht spezifisch einer Fachrichtung der Zahnmedizin zugeordnet ist, fallen Leistungen der instrumentellen Diagnostik in der Regel im Rahmen funktionstherapeutischer Maßnahmen, d. h., im Zusammenhang mit prothetischen und kieferorthopädischen Maßnahmen an. Instrumentelle Funktionsanalysen werden derzeit nicht von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen, demnach sind Leistungen zur Funktionsanalyse nur privat berechenbar. Zugleich besteht in der Diagnostik und der Therapie eine auffällige Praxisvariabilität, was eine erhebliche Unsicherheit bei den betroffenen Patienten verursacht.

Wissenschaftlicher Hintergrund

Der Oberbegriff Funktionsstörungen der Kiefergelenke wird synonym mit dem Terminus CMD verwendet und fasst eine heterogene Gruppe unterschiedlicher Pathologien mit überlappenden Symptomen zusammen. Funk-tionsstörungen werden als dysfunktionsbedingte Erkrankung mit komplexer Ätiopathogenese multifaktoriellen Ursprungs verstanden. Möglicherweise wird die Vielzahl von Symptomen durch verschiedene Fehlfunktionen wie z. B. der Kaumuskulatur, Kiefergelenke und Okklusion oder durch Einflussfaktoren wie z. B. Traumata, Stress, Bewältigung, Disposition etc. ausgelöst. International anerkannte Definitionen oder eine systematische Dokumentation der CMD oder der instrumentellen Funktionsanalyse existieren bisher nicht. Erst in den vergangenen Jahren setzen sich international zwei Klassifizierungen durch: Das klinisch-orientierte System der amerikanischen Akademie für orofaziale Schmerzen und die empirisch basierten Diagnosekriterien zur Erforschung von temporomandibulären Dysfunktionen. Klassischerweise wird die Diagnostik von CMD auf der Basis von klinischen (bzw. manuellen) Untersuchungen und bildgebenden Verfahren durchgeführt. Zahlreiche technische Instrumentarien werden angeboten um zusätzlich Befunde zu erheben. Die Autoren zählen zur heterogenen Gruppe der instrumentellen Funktionsanalysen alle Verfahren, die unter Verwendung eines Algorithmus eine strukturelle und/oder funktionelle Einschränkung sowie Dyskoordination des anatomisch und physiologisch gesunden Bewegungsablaufs aufzeichnen, vermessen und/oder beurteilen können. Die in der Literatur berichtete Prävalenz von Symptomen der CMD weist eine sehr hohe Spannweite innerhalb der untersuchten Bevölkerung auf. In Deutschland liegt sie nach Ergebnissen der Dritten Mundgesundheitsstudie bei ca. 5%, für ca. 3% der Betroffenen wird die Notwendigkeit einer Therapie angegeben. Das bisherige Wissen zur Ätiologie und Therapie der CMD ist unzureichend, was besonders für betroffene Patienten frustrierend und unbefriedigend ist. Die Diagnosestellung kraniomandibulärer Erkrankungen scheint eher abhängig zu sein von der Erfahrung und der Einstellung des Klinikers als von wissenschaftlich messbaren Kriterien. Dieser HTA beschränkt sich auf die Bewertung von Publikationen zu instrumentellen Funktionsanalysen zur Diagnose der CMD im Vergleich zu klinischen Untersuchungen.

Forschungsfragen

Ziel dieses HTA ist die Beurteilung der Validität zahnmedizinischer, messtechnisch-instrumenteller Diagnostik für CMD. Vor diesem Hintergrund werden aus zahnmedizinischer Sicht folgende Forschungsfragen abgeleitet:

  • Wie valide ist die instrumentelle Funktionsanalyse für die Diagnose von Funktionsstörungen des kraniomandibulären Systems im Vergleich zur klassischen klinischen Funktionsanalyse?
  • Wie valide sind die verschiedenen instrumentellen Funktionsanalyseverfahren im Vergleich untereinander bei der Diagnose von Funktionsstörungen des kraniomandibulären Systems?
  • Gibt es von strukturell-funktionellen, somatischen, psychosozialen oder anderen Faktoren abhängige Unterschiede in der Validität der technischen Instrumentarien?
  • Wo besteht aufgrund widersprüchlicher Studienergebnisse oder fehlender hochwertiger Studien noch weiterer zahnmedizinisch-epidemiologischer Forschungsbedarf?

Aus gesundheitsökonomischer Sicht werden folgende Fragen formuliert:

  • Wie ist die Kosten-Effektivität der instrumentellen Funktionsanalyse zu bewerten?
  • Welche weiteren Fragestellungen müssen bei der Untersuchung der Kosten-Effektivität berücksichtigt werden und sind hierüber Aussagen möglich?
  • Können die bisher vorliegenden Informationen zur Kosten-Effektivität Grundlage für gesundheitspolitische Entscheidungen sein? Welche budgetären Effekte ergeben sich gegebenenfalls daraus?

Aus ethischer, juristischer und sozialer Sicht stehen folgende Forschungsfragen im Mittelpunkt der Betrachtungen:

  • Welche sozialen, juristischen und ethischen Implikationen müssen im Rahmen der Behandlung von CMD mittels instrumenteller Funktionsanalyse berücksichtigt werden und sind hierüber Aussagen möglich?
  • Muss aufgrund der medizinischen und ökonomischen Bewertung der Zugang oder aber das Angebot zu dieser Diagnosemöglichkeit in Deutschland verändert werden?

Methodik

Um Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Funktionsanalysen in der Behandlung von CMD beurteilen zu können, wird vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) am 20.09.2007 sowie als Aktualisierung noch einmal am 13.05.2009 eine systematische Literaturrecherche in 27 Datenbanken durchgeführt. Die Literaturrecherche bezieht sich dabei auf Literatur in deutscher und englischer Sprache ab 1990. Es werden vier Einzelsuchen zu medizinischen, gesundheitsökonomischen, ethischen und juristischen Themen durchgeführt. Zusätzlich erfolgt eine umfangreiche Handrecherche durch die Autoren.

Ergebnisse

Insgesamt ergibt die systematische Datenbankrecherche des DIMDI 962 Treffer mit 898 medizinischen und 64 ökonomischen Veröffentlichungen. Nach Ausschluss von Duplikaten und Durchsicht der Überschriften und Zusammenfassungen werden davon 125 medizinische sowie 19 ökonomische Texte als Volltexte beim DIMDI in Bestellung gegeben. Per Handrecherche werden zusätzlich 37 medizinische und sieben ökonomische Artikel als möglicherweise relevant für diesen HTA-Bericht erachtet. Aufgrund fehlender Relevanz oder methodischer Qualität für die vorliegenden Fragestellungen können von den 162 medizinischen und 26 ökonomischen Publikationen keine Arbeiten in diesen Bericht eingeschlossen werden.

Diskussion

Die uneinheitliche Verwendung des Ausdrucks CMD und die Heterogenität der als instrumentelle Funktionsanalysen bezeichneten unterschiedlichen diagnostischen Verfahren erschweren das Auffinden der relevanten Publikationen sowie die Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Ergebnisse zu dem Thema. Im Rahmen dieses HTA-Berichts wird die instrumentelle Funktionsanalyse als Verfahren zur Diagnostik von Funktionsstörungen des kraniomandibulären Systems im Vergleich zu klinischen Funktionsanalyse beurteilt. Die Auswertung der publizierten Artikel ergibt, dass keine Aussagen zu den Forschungsfragen gemacht werden können, da keine relevanten Studien zur Beantwortung der Forschungsfragen zu identifizieren sind.

Schlussfolgerung und Empfehlungen

Im Rahmen dieses HTA-Berichts wird die Validität der instrumentellen Funktionsanalyse zur Diagnose von CMD im Vergleich zur klassischen klinischen Funktionsanalyse auf der Basis der publizierten Fachliteratur untersucht. Es ist festzustellen, dass die instrumentelle im Vergleich zur klinischen Funktionsanalyse bisher nicht bei einer ausreichend großen Anzahl von Patienten unter Verwendung eines Referenzstandards systematisch und unabhängig validiert beschrieben wird. Aus diesem Grund ist es unklar, ob die Durchführung einer instrumentellen neben einer klinischen Funktionsanalyse empfehlenswert zur Diagnostik von CMD ist. Um grundlegende Fragen gegenüber der instrumentellen Funktionsanalyse zur Diagnostik bei CMD beantworten zu können, sollten qualitativ hochwertige Studien durchgeführt werden. Aus diesen Gründen besteht Forschungsbedarf zur Schaffung grundlegender Evidenz. Zusätzlichen Forschungsbedarf ergeben ferner die Fragen der Entwicklung sowie Implementierung von medizinisch effektiven und ökonomisch effizienten Leitlinien zur strukturierten modularen Untersuchung bei CMD. Der obligatorische Einsatz strukturierter Leitlinien könnte einerseits zu einer signifikanten Reduzierung von Fehldiagnosen führen (mit ihren negativen Kosteneffekten) sowie andererseits eine ausreichende Diagnose und Therapie ermöglichen.