gms | German Medical Science

GMS German Plastic, Reconstructive and Aesthetic Surgery – Burn and Hand Surgery

Deutsche Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen (DGPRÄC)
Deutsche Gesellschaft für Verbrennungsmedizin (DGV)

ISSN 2193-7052

Ganzkörper-MRT zur Lokalisation eines Kompartmentsyndroms beim Starkstromverletzten – ein Fallbericht

Fallbericht

Suche in Medline nach

  • corresponding author Bert Reichert - Klinik für Plastische, Wiederherstellende und Handchirurgie, Zentrum für Schwerbrandverletzte, Klinikum Nürnberg, Nürnberg, Deutschland
  • author Reiner Sievers - Klinik für Plastische, Wiederherstellende und Handchirurgie, Zentrum für Schwerbrandverletzte, Klinikum Nürnberg, Nürnberg, Deutschland
  • author Florian E. Oti - Klinik für Plastische, Wiederherstellende und Handchirurgie, Zentrum für Schwerbrandverletzte, Klinikum Nürnberg, Nürnberg, Deutschland

GMS Ger Plast Reconstr Aesthet Surg 2011;1:Doc02

doi: 10.3205/gpras000002, urn:nbn:de:0183-gpras0000023

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/gpras/2011-1/gpras000002.shtml

Veröffentlicht: 14. Dezember 2011

© 2011 Reichert et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Ein 18-jähriger Mann wird durch Einwirkung von Hochspannung schwer verletzt und entwickelt innerhalb weniger Stunden einen drastischen Anstieg der Creatrininkinase (CK) sowie eine deutliche Verfärbung des Urins. Klinisch lässt sich das deswegen als sicher zu vermutende, aufgrund ödematöser Schwellung entstandene Kompartmentsyndrom allerdings nicht eindeutig lokalisieren, so dass eine notfallmäßige Ganzkörper-MRT erfolgt. Diese stellt als Zone der maximalen Muskelschädigung einen Abschnitt des rechten Oberschenkels hochsensitiv dar, so dass daraufhin eine Dekompression erfolgt, die auf diese Lokalisation beschränkt bleiben darf. Innerhalb weniger Minuten erholt sich das Muskelgewebe. Nach sechs Monaten sind keine funktionellen Residuen verblieben.


Einleitung

Im Gegensatz zur thermischen Verletzung durch äußerlich einwirkende Hitze kommt es beim Stromunfall zwar ebenfalls zu gewebsschädigender Hitzeentwicklung. Anders als bei der typischen Brandverletzung lässt sich das Ausmaß und die Schwere eines Stromunfalls allein durch Bewertung der geschädigten Körperoberfläche nicht ausreichend abschätzen. Bedeutsam ist vor allem die Schädigung der Gewebestrecke, die der Stromfluss im Inneren des Körpers passiert. Dieser Schaden ist hauptsächlich von Stromspannung und -stärke, Kontaktfläche und Widerstand des betroffenen Gewebes sowie von der Dauer der Einwirkung abhängig [2]. Diese Faktoren sind sehr variabel, die geschädigten Gewebe aber immer dieselben. Elektrischer Strom folgt stets dem Weg des geringsten Widerstands, fließt also durch Gewebe mit hoher elektrischer Leitfähigkeit. Neben Haut und neurovaskulären Strukturen ist dies vor allem die Muskulatur [2].

Prognostisch spielt innerhalb der ersten Stunden nach einer Starkstromverletzung die Entstehung von Muskelnekrosen eine entscheidende Rolle. Hierfür ist hauptsächlich der Stromdurchfluss an den Extremitäten bedeutsam. Zusätzlich zur unmittelbar schädigenden Wirkung des elektrischen Stroms kommt es durch den anschließend kontinuierlich gesteigerten Gewebsdruck zu sekundären Schädigungen. Stromdurchfluss führt zu einer Ödementwicklung. Diese wiederum kann in den Körperabschnitten, die von straffen Faszien umgebene Skelettmuskeln enthalten, ein Kompartmentsyndrom verursachen. Ohne effektive Druckentlastung kann dann eine fortschreitende Muskelnekrose nicht aufgehalten werden. Für solche Maßnahmen steht also nur wenig Zeit zur Verfügung, ein Kompartmentsyndrom entwickelt sich innerhalb weniger Stunden.

Am beatmeten Notfallpatienten lassen sich sichere Hinweise auf das Vorliegen eines Kompartmentsyndroms durch klinische Untersuchungen nicht finden. Umso größer ist die Bedeutung eines engmaschigen Monitorings, zu dem Bestimmungen nekroseanzeigender Parameter, vor allem der Creatininkinase, aber auch die Beobachtung der Urinfärbung gehören. Ein umfänglicher Muskeluntergang wird in großem Maße Myoglobin freisetzen, die typische Braunverfärbung des Urins zeigt eine erhöhte Myoglobinämie an und deutet auf einen massiven Untergang von Muskelgewebe hin.

Derartige Befunde nach einer Stromverletzung sind praktisch beweisend für das Vorliegen eines Kompartmentsyndroms. Es besteht eine hohe Dringlichkeit zur Dekompression mittels offener Faszienspaltung. Das Gelingen einer solchen Maßnahme wirkt sich entscheidend auf das Gesamtüberleben aus. Kann ein Fortschreiten der Nekroseentwicklung vermieden werden, wird die Gefahr einer Niereninsuffizienz und auch die Kardiotoxizität deutlich gesenkt und septische Spätkomplikationen treten deutlich seltener auf.


Fallbeispiel

Ein 18-jähriger Mann stieg am 27.09.2009 um 2:00 Uhr alkoholisiert auf einen Zugwaggon. Dabei geriet er in die Nähe der unter 15.000 Volt stehenden Oberleitung, wurde durch einen Lichtbogen getroffen und stürzte kopfüber vom Waggon. Der Stromfluss verlief vom Nacken in beide Beine. Laut erstversorgendem Notarzt war der Patient am Unfallort noch ansprechbar gewesen, so dass er wach in das nächstgelegene Krankenhaus transportiert werden konnte, wo eine Kopfplatzwunde chirurgisch versorgt wurde. Unter Ankündigung einer drittgradigen Verbrennungsverletzung von 50% der Körperoberfläche erfolgte die kurzfristige Zuverlegung im Rettungshubschrauber. 3 Stunden nach dem Trauma gelangte der protektiv intubierte und beatmete Patient in unser Haus und wurde zunächst traumatologisch gesichtet. Er wies ein beidseitiges Monokelhämatom auf, das CCT zeigte eine komplexe linksseitige Mittelgesichtsfraktur mit Beteiligung von Jochbein, Kieferhöhle und Orbitaboden. Intracraniell fanden sich keine Auffälligkeiten. Weiterhin gefundene Läsionen von BWK 7 und LWK 3 wurden unfallunabhängig als M. Scheuermann gewertet.

Die Flächenausdehnung der verbrannten Körperoberfläche betrug 33%, betroffen waren Kopf, Hals, ventraler Rumpf, linker Oberschenkel und das gesamte rechte Bein (Abbildung 1 [Abb. 1]). 13% vKOF waren tief dermal, 20% oberflächlich verbrannt. Am rechten Bein fanden sich zwar tief zweitgradige Verbrennungen der Haut, die Extremität war palpatorisch aber weich, die Fußpulse sicher tastbar. Der ABSI-Score ergab 6 Punkte.

Eine Stunde nach Aufnahme in unserem Haus und 4 Stunden nach Trauma erfolgte die Übernahme auf die Intensivstation für Schwerbrandverletzte, wo umgehend das Reinigungsbad erfolgte. Zu diesem Zeitpunkt waren alle Extremitäten „weich, warm und gut durchblutet“.

Um 9:30 Uhr (7,5 Stunden nach Trauma) fiel erstmalig eine deutliche Erhöhung der Creatrininkinase (CK) auf (Abbildung 2 [Abb. 2]). Allerdings waren die Extremitäten weiterhin klinisch unauffällig, die Fußpulse tastbar. Am rechten Oberschenkel bestand zwar eine Umfangszunahme von 1 cm, die wurde aber als Messtoleranz gewertet.

Bei weiter fortschreitendem CK-Anstieg sowie zunehmender Urinverfärbung konnte kein Zweifel mehr am Vorliegen eines entlastungspflichtigen Kompartmentsyndroms bestehen. Eine zuverlässige Lokalisation des betreffenden Kompartiments war klinisch allerdings nicht möglich, so dass eine vollständige Dekompression beider unterer Extremitäten erwogen werden musste. Aufgrund der hohen Morbidität einer derartigen Maßnahme entschieden wir uns stattdessen zunächst für ein notfallmäßiges Ganzkörper-MRT zur Lokalisationsdiagnostik, welches 10,5 Stunden nach dem Trauma durchgeführt werden konnte („GK-MTR“, sequentiell Hals, Thorax, Abdomen, Becken, Oberschenkel, Unterschenkel SPiR, SPAIR und T1 coronal). Hierbei zeigten sich ödematöse Flüssigkeitsanreicherungen mit entsprechender Signalanhebung in der Muskulatur des rechten Oberschenkels (M. quadriceps femoris, M. adductor longus) und aller drei Unterschenkelkompartimente rechts (Abbildung 3 [Abb. 3]). Daraufhin konnte die ohnehin bereits zu stellende notfallmäßige Indikation zur Kompartmentspaltung auf diese betroffenen Areale am rechten Bein präzisiert und eingeschränkt werden. Die Dekompression erfolgte um 14:30 Uhr, also 12,5 Stunden nach Trauma. Intraoperativ fanden sich makroskopisch deutliche Ischämiezeichen der nach Fasziotomie hervorquellenden Muskulatur, die aber nach kurzer Zeit reversibel waren (Abbildung 4 [Abb. 4] und Abbildung 5 [Abb. 5]).

Eine weitere Steigerung der CK konnte verhindert werden (Abbildung 2 [Abb. 2]). Nach 25 Tagen und 5 Operationen konnte der Patient auf die Normalstation verlegt werden. Ein zu diesem Zeitpunkt noch bestehender kompletter sensibler und motorischer Ausfall am rechten Bein bildete sich spontan zurück. 6 Monate nach dem Trauma bestanden keinerlei funktionelle Einschränkungen (Abbildung 6 [Abb. 6]).


Diskussion

Während in der Traumatologie die Lokalisation eines Kompartmentsyndroms normalerweise keine großen Schwierigkeiten bereitet, ist dies bei Stromverletzungen nicht selten ein großes Problem. Man weiß bei entsprechenden Laborbefunden und bei Vorliegen der beschriebenen Urinverfärbung zwar, dass zwischen Ein- und Austrittspunkt ein unter Druck stehendes Muskelkompartiment bestehen muss (Abbildung 7 [Abb. 7]). Dieses lässt sich von außen aber allein durch klinische Untersuchungsbefunde nicht genau lokalisieren. Aus diesem Grunde wurde empfohlen, prophylaktisch sämtliche prinzipiell in Frage kommenden Kompartimente zu eröffnen [7]. Eine Steigerung des Gesamtüberlebens ließ sich hierdurch aber nicht erreichen, so dass diese Empfehlungen heute relativiert werden [5]. Auch gibt es Hinweise darauf, dass eine selektive Dekompression für die Rettung des sekundär durch Minderperfusion bedrohten Gewebes zwar effektiv ist, eine Amputationsnotwendigkeit aber dennoch nicht immer vermieden werden kann, da diese letztlich vor allem vom Ausmaß des primären traumabedingten Schadens abhängt [4].

Auch die Bedeutung der intrakompartimentalen Druckmessung wird in diesem Zusammenhang diskutiert. Es gibt sowohl Autoren, die eine Dekompression von den gemessenen Werten abhängig machen [5], als auch andere, die dies bewusst nicht durchführen. Dies verwundert nicht angesichts der Tatsache, dass derartige Druckbestimmungen auch in der Traumatologie nicht unwidersprochen sind.

Der Ausfall der peripheren Pulse ist anders als bei sonstigen Formen eines Kompartmentsyndoms beim Stromunfall nicht regelhaft zu erwarten [7]. Bedeutsam ist daher vor allem, überhaupt an den Pulsausfall zu denken und periphere Pulse regelmäßig zu kontrollieren.

Wenn die genaue Lokalisation der Muskelschädigung klinisch nicht bestimmt werden kann ist es naheliegend, die MRT zu nutzen, um auf diese Weise zu entscheiden, ob und wo eine chirurgische Druckentlastung erfolgen soll. Die hierzu bislang vorliegenden Erfahrungen sind allerdings nicht ermutigend. Bereits 1995 hatten Fleckenstein et al. über ihre Studie an Hochspannungsverletzten mit dem Ziel, die Vitalität von Muskulatur darzustellen, berichtet [1]. Sie bezeichneten ödematös veränderte Muskulatur ohne Enhancement als avital, während ein Enhancement eine Perfusion anzeigte und damit vitale Muskulatur kennzeichnete. Allerdings kamen sie auch zu dem Schluss, dass die MRT avitale Muskulatur als normal darstellen würde, wenn nicht gleichzeitig eine ödematöse Schwellung bestehe, was die Sensitivität dieser Methode deutlich einschränke. Ohashi [6] konnte zeigen, dass die MRT zur Bestimmung der Amputationshöhe an Extremitäten nach Starkstromverletzungen eingesetzt werden kann. In jüngerer Zeit ist die MRT aber vermehrt auch in der Frühphase eingesetzt worden, um eine Muskelnekrose anzuzeigen [3]. Letztlich fehlen übereinstimmende Aussagen hierzu aber noch. Derzeit ist ein bildgebendes Verfahren zur akkuraten Darstellung der Gewebsschädigung in der Frühphase noch immer nicht etabliert [5].

Moderne 1,5-Tesla-Multikanal-Ganzkörper-MRT-Scanner mit beweglichen Tischen erlauben hochauflösende Ganzkörperuntersuchungen von Kopf bis Fuß in weniger als einer Stunde, ohne dass der Patient umgelagert werden muss. Die Ganzkörper-MRT wird propagiert zur Früherkrankung von Tumorerkrankungen, Tumorstaging und zur Rezidiverkennung, kann aber auch bei benignen Veränderungen eingesetzt werden [8].

Bei einem instabilen Akutpatienten stellt jede außerhalb der Intensivstation durchgeführte Untersuchung eine potentiell riskante Maßnahme dar, die nur nach sorgfältiger Abwägung erfolgen darf. Es gibt Autoren, die die alleinige Bestimmung der CK für ausreichend halten, um eine Muskelnekrose feststellen und damit die frühzeitige chirurgische Dekompression begründen zu können [3]. Aber wo genau soll diese Dekompression erfolgen? Auch in unserem Fallbeispiel ließ sich diese Frage klinisch nicht klären. Wenn die institutionellen Umstände dies erlauben und der betreffende Patient dadurch nicht gefährdet wird, schlagen wir stattdessen zur Klärung dieser Frage eine Ganzkörperuntersuchung im MRT vor.


Conclusion

Der hier dargestellte Fall belegt, dass im Gegensatz zu älteren Geräten MRT-Scanner der neuesten Generation für die Suche nach einem umschriebenen Kompartmentsyndrom geeignet sind. So lässt sich die erforderliche Fasziotomie lokal limitieren. Der Vorteil der dadurch deutlich geringeren Morbidität rechtfertigt den großen logistischen Aufwand.


Anmerkungen

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Fleckenstein JL, Chason DP, Bonte FJ, Parkey RW, Hunt JL, Purdue GF, Burns DK. High-voltage electric injury: assessment of muscle viability with MR imaging and Tc-99m pyrophosphate scintigraphy. Radiology. 1995;195(1):205-10.
2.
Jia-ke C, Li-gen L, Quan-wen G, Xiao-peng S, Hai-jun Z, Zhi-yong S, Zhi-qiang W, Cai Z. Establishment of soft-tissue-injury model of high-voltage electrical burn and observation of its pathological changes. Burns. 2009;35(8):1158-64. DOI: 10.1016/j.burns.2009.02.010 Externer Link
3.
Kopp J, Loos B, Spilker G, Horch RE. Correlation between serum creatinine kinase levels and extent of muscle damage in electrical burns. Burns. 2004;30(7):680-3. DOI: 10.1016/j.burns.2004.05.008 Externer Link
4.
Mann R, Gibran N, Engrav L, Heimbach D. Is immediate decompression of high voltage electrical injuries to the upper extremity always necessary? J Trauma. 1996;40(4):584-7. DOI: 10.1097/00005373-199604000-00011 Externer Link
5.
Muehlberger T, Krettek C, Vogt PM. Der Stromunfall. Neue Aspekte zu Pathophysiologie und Behandlung [Electric accident. New aspects regarding pathophysiology and treatment]. Unfallchirurg. 2001;104(12):1122-8.
6.
Ohashi M, Koizumi J, Hosoda Y, Fujishiro Y, Tuyuki A, Kikuchi K. Correlation between magnetic resonance imaging and histopathology of an amputate forearm after an electrical injury. Burns. 1998;24(4):362-8. DOI: 10.1016/S0305-4179(98)00025-4 Externer Link
7.
Purdue GF, Arnoldo BD, Hunt JL. Electrical Injuries. In: Herndon DN, ed. Total Burn Care. Philadelphia: Saunders Elsevier; 2007. p. 513-20.
8.
Schmidt G, Dinter D, Reiser MF, Schoenberg SO. Möglichkeiten und Grenzen der Ganzkörper-MRT [The uses and limitations of whole-body magnetic resonance imaging]. Dtsch Arztebl Int. 2010;107(22):383-9. DOI: 10.3238/arztebl.2010.0383 Externer Link