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GMS German Medical Science — an Interdisciplinary Journal

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1612-3174

Stärkung der Risikokompetenz von Patienten: eine interdisziplinäre Aufgabe

Editorial Sonderausgabe: Risikokompetenz

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  • corresponding author Harald Schweim - Drug Regulatory Affairs, Rheinische Friedrich-Wilhelm-Universität, Bonn, Deutschland

GMS Ger Med Sci 2015;13:Doc12

doi: 10.3205/000216, urn:nbn:de:0183-0002169

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/gms/2015-13/000216.shtml

Eingereicht: 2. Dezember 2014
Überarbeitet: 4. Mai 2015
Veröffentlicht: 9. Juli 2015

© 2015 Schweim.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Gliederung

Editorial

Die öffentliche Diskussion über Gesundheitsrisiken hat in Deutschland in den letzten Jahren stark zugenommen. Einer der Gründe dürfte in der oft sehr intensiven und dramatischen Berichterstattung liegen, mit der die Öffentlichkeit über die jeweils aktuellen Vorfälle wie BSE, Vogelgrippe oder Ebola informiert wurde. Oft hatte sich nachträglich herausgestellt, dass die manchmal sehr erbittert geführte Diskussion am sachlichen Kern des Problems völlig vorbei gelaufen ist. Was trotzdem im Bewusstsein der Gesellschaft haften blieb, war meist ein nebulöses Unsicherheitsgefühl. In dieser Situation hat das Komitee Forschung Naturmedizin (KFN) beschlossen, einer interdisziplinären Arbeitsgruppe die Fragen zu stellen, was getan werden müsste, um die Risikokompetenz interessierter Laien in diesem Bereich zu verbessern.

Der Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz von Michael Koller gehören an:

  • Bildungsforschung: Prof. Ulrich Hoffrage, Universität Lausanne
  • Medizin: Prof. Dr. Michael Koller, Zentrum für Klinische Studien der Universität Regensburg
  • Gesundheitsforschung: Prof. Dr. Ingrid Mühlhauser, Institut für Gesundheitswissenschaften der Universität Hamburg
  • Pharmakologie: Prof. Dr. Harald Schweim, Department of Drug Regulatory Affairs der Universität Bonn
  • Toxikologie: Prof. Dr. Ralf Stahlmann, Charité Berlin
  • Kulturwissenschaften: Prof. Michael Wolffsohn, Universität der Bundeswehr München

Am 24./25. Januar 2014 fand in München ein Symposium statt, in dem nach Impulsstatements und einer anschließenden Diskussion mit der Methode des nominalen Gruppenprozesses relevante Aspekte ausgearbeitet, gruppiert und zur weiteren Ausarbeitung einzelnen Teilnehmern zugeordnet wurden. Die Ergebnisse dieser Ausarbeitung bilden den Inhalt dieser mehrteiligen Publikation.

Ingrid Mühlhauser und ihre Mitarbeiter sind vor allem auf die Kommunikation zwischen Arzt und Patienten eingegangen [1]. Aus ihrer langjährigen Erfahrung mit der evidenzbasierten Medizin (EBM) fordern sie eine konsequente Einbeziehung der publizierten wissenschaftlichen Daten auch in der Kommunikation mit Laien.

Ralf Stahlmann stellt fest, dass toxikologische Befunde nur dann richtig interpretiert werden können, wenn die Physiologie und Pathophysiologie von Tier und Mensch verstanden sind [2]. Er betont, dass experimentelle Befunde oder Konzentrationen von Giftstoffen in der menschlichen Umwelt häufig aus dem Forschungskontext gerissen werden, um dem Sensationsbedürfnis populärer Medien zu dienen.

Mit der öffentlichen Kommunikation und den Medien beschäftigt sich Harald Schweim [3]. Er betont die Rolle der Medien bei der Rezeption von gesundheitlichen Inhalten und zeigt, wo besonders oft Probleme auftreten, und welche Ursachen sie entstehen lassen. Einen wichtigen Aspekt spielt dabei die Gesundheitsbildung, die nicht nur im Rahmen der schulischen Bildung stattfindet, sondern als Angebote der Erwachsenenbildung die Bürger lebenslang begleitet.

Michael Koller analysiert, nachdem das paternalistische Entscheidungsmodell in der Medizin zunehmend durch die Emanzipation der Patienten außer Kraft gesetzt wird und dank Internet gleichzeitig ungefilterte Information zu jedem Thema zugänglich geworden sind, die Tatsache, dass medizinische Entscheidungen nicht nur unter medizinischen Aspekten, sondern auch unter gesellschaftlichen getroffen werden und fragt nach Konsequenzen, die sich daraus ergeben [4].

Ulrich Hoffrage untersucht vor allem jene Störfaktoren, die in der Kommunikation zwischen Arzt und Patienten häufig auftreten [5]. Er zeigt auf, wo Missverständnisse in der Kommunikation über Risikofaktoren dazu führen, dass bestimmte Risiken für das Individuum aufgebläht bzw. Erfolge der Präventionsmaßnahmen überschätzt werden. Gleichzeitig zeigt er auf, wie sich alleine durch die Wahl der statistischen Darstellung solche Probleme vermeiden ließen.

Michael Wolffsohn greift die gesellschaftliche Perspektive der Risikokompetenz auf und stellt dabei – abgeleitet aus der allgemeinen historischen Empirie – die Frage nach der Risikobereitschaft in der heutigen „postheroischen“ Gesellschaft [6]. Er fragt auch, ob Patientenemanzipation einen reale Möglichkeit ist, oder nur eine Illusion, die aus wirtschaftlichen Zwängen der Gesellschaft heraus aufrechterhalten wird.

Die Arbeitsgruppe wird sich mit dem Thema weiter beschäftigen. Die Frage, ob die Emanzipation der Patienten zu einer realen Verringerung individueller Risiken geführt hat, soll untersucht werden. Ethisch unbeantwortet ist, ob eine Abnahme der ärztlichen Verantwortung in den Entscheidungsprozessen einhergehen darf mit der zunehmend gelebten Eigenverantwortung der Patienten.


Literatur

1.
Mühlhauser I, Albrecht M, Steckelberg A. Evidence-based health information and risk competence. GMS Ger Med Sci. 2015;13:Doc11. DOI: 10.3205/000215 Externer Link
2.
Stahlmann R, Horvath A. Risks, risk assessment and risk competence in toxicology. GMS Ger Med Sci. 2015;13:Doc09. DOI: 10.3205/000213 Externer Link
3.
Schweim H, Ullmann M. Media influence on risk competence in self-medication and self-treatment. GMS Ger Med Sci. 2015;13:Doc10. DOI: 10.3205/000214 Externer Link
4.
Koller M, Hoffrage U. Societal perspectives on risk awareness and risk competence. GMS Ger Med Sci. 2015;13:Doc08. DOI: 10.3205/000212 Externer Link
5.
Hoffrage U, Koller M. Chances and risks in medical risk communication. GMS Ger Med Sci. 2015;13:Doc07. DOI: 10.3205/000211 Externer Link
6.
Wolffsohn M. Self-criticism of physicians, patient participation and risk competence. GMS Ger Med Sci. 2015;13:Doc06. DOI: 10.3205/000210 Externer Link