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GMS Hygiene and Infection Control

Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH)

ISSN 2196-5226

Die chronische Wunde in der neurologischen Frührehabilitation

The chronic wound in early neurological rehabilitation

Übersichtsarbeit

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  • corresponding author Jens Dieter Rollnik - Neurologische Klinik Hessisch Oldendorf, Akademisches Lehrkrankenhaus der Medizinischen Hochschule Hannover, Hessisch Oldendorf, Deutschland
  • Brigitte Wolff - Akademisches Lehrkrankenhaus der Medizinischen Hochschule Hannover, Neurologische Klinik, Hessisch Oldendorf, Deutschland
  • Andreas Bertomeu-Knopp - Akademisches Lehrkrankenhaus der Medizinischen Hochschule Hannover, Neurologische Klinik, Hessisch Oldendorf, Deutschland

GMS Krankenhaushyg Interdiszip 2006;1(1):Doc23

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/dgkh/2006-1/dgkh000023.shtml

Veröffentlicht: 30. August 2006

© 2006 Rollnik et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Chronische Wunden, insbesondere Dekubitalulzera, stellen in der neurologischen Frührehabilitation ein erhebliches Problem dar. Wenngleich durch geeignete pflegerische Maßnahmen (insbesondere Lagerungstechniken) eine Vielzahl dieser Problemwunden vermeidbar ist, zeigte sich in einer Querschnittserhebung unseres Patientenguts eine Prävalenz chronischer Wunden von immerhin 9,2%. Hierbei handelte es sich vorwiegend um ältere Patienten (mittleres Alter ca. 65 Jahre) mit einem sehr hohen Betroffenheitsgrad (mittlerer Frühreha-Barthel-Gesamtindex von -208,0 (± 47,7) Punkten, d.h. es handelte sich ausschließlich um Patienten der Frührehabilitationsphase B). Bemerkenswert war, dass immerhin 80% der betroffenen Patienten ihre chronische Wunde bereits aus dem Akuthaus mitgebracht hatten. Das verdeutlicht die Notwendigkeit, dass auch bereits Akuthäuser bei Risikopatienten eine geeignete Dekubitus-Prophylaxe durchführen sollten.

Abstract

Chronic wounds, especially decubitus ulcers, present a substantial problem in early neurological rehabilitation. Although many of these problem wounds are avoidable through appropriate nursing care (positioning techniques), a cross-sectional examination of our group of patients revealed a prevalence of chronic wounds of 9.2%. This chiefly included older (average age ca. 65 years), severely affected patients (average early-rehabilitation Barthel's total index of -208.0 (± 47.7) points), i.e., these are exclusively patients in early rehabilitation phase B. It is noteworthy that 80% of the patients concerned already exhibited the chronic wounds upon leaving the acute-care facility. This sharply emphasizes the need for acute-care facilities to perform decubitus prophylaxis in risk patients.


Einleitung

Die neurologische Frührehabilitation (Phasen B und C) schließt sich unmittelbar an die Akutbehandlung an. Hierbei handelt es sich um Patienten mit schweren und schwersten Hirnschädigungen, z.B. in Folge eines Schädel-Hirn-Traumas, einer zerebralen Ischämie oder einer intrakraniellen Blutung. Bei Patienten der Phase B handelt es sich i.d.R. um bewusstseinsgestörte Patienten, die sich in einem intensivmedizinisch überwachungspflichtigen Zustand befinden, Patienten der Phase C sind noch in vielen Aktivitäten des täglichen Lebens auf Hilfe angewiesen.

Die Schwere der Erkrankungen von Patienten der neurologischen Frührehabilitation und die damit verbundene Immobilisation erklärt die besondere Problematik chronischer Wunden. Hierbei handelt es sich zumeist um Dekubitalulzera, seltener um Wundheilungsstörungen nach chirurgischen Eingriffen oder ein Ulcus cruris venosum.

Pathophysiologisch liegt dem Dekubitus eine ischämische Nekrose der Haut und der darunter liegenden Gewebe aufgrund anhaltender Druckbelastung zu Grunde. Man geht heute davon aus, dass eine "gefährliche Druckeinwirkung" bereits dann gegeben ist, wenn Arteriolen und Venolen während mehr als 2 h an der gleichen Stelle mit einem Druck komprimiert werden, der den mittleren Kapillardruck (20-40 mmHg) übersteigt [1]. Hieraus wird schon ersichtlich, dass durch geeignete pflegerische Maßnahmen wie regelmäßige Lagerungswechsel ein Großteil der Dekubiti vermeidbar ist. Risikofaktoren für die Entwicklung eines Dekubitus sind vor allem Immobilität, Bewusstlosigkeit bzw. Vigilanzstörungen (auch durch Sedierung), hohes Lebensalter, neurologische Störungen (v.a. Paresen mit Sensibilitätsstörungen), Kachexie, Durchblutungsstörungen (arterielle Verschlusskrankheit), Exsikkose (z.B. durch Dehydratation, Fieber), Anämie, Inkontinenz, vorausgegangene große chirurgische Eingriffe (v.a. bei älteren Menschen), Polytrauma und Schock. Nach der Literatur kann die Prävalenz von Dekubiti bei schwerkranken Patienten in Kliniken oder in häuslicher bzw. institutioneller Pflege mit 1% bis zu 5% angegeben werden [2], [3], [6]. Das "demografische Altern" unserer Bevölkerung lässt jedoch eine deutliche Erhöhung von Prävalenz und Inzidenz in den nächsten Jahren befürchten.

Bevorzugte Lokalisationen von Dekubitalgeschwüren sind vor allem Körperstellen mit wenig Subkutangewebe, z.B. an der Ferse (Abbildung 1 [Abb. 1]), am Hinterkopf (Abbildung 2 [Abb. 2]) oder am Os sacrum (Abbildung 3 [Abb. 3]).

Die klinische Einteilung des Dekubitus orientiert sich an der Tiefe des Druckgeschwürs in I-IV.

Hinsichtlich der Therapie muss auf die auch in der Prophylaxe entscheidenden pflegerischen Maßnahmen (regelmäßiger Lagerungswechsel rund um die Uhr, 30° Schräglagerung, ggfs. Einsatz druckentlastender Bettensysteme) besonderer Wert gelegt werden, ebenso wie eine Behandlung der bereits genannten Risikofaktoren [2], [4], [5]. Es ist eine möglichst rasche Mobilisierung der Patienten anzustreben. Ist es zu einem Dekubitus gekommen, sollten eine Dokumentation der vorhandenen Läsion sowie eine Verlaufsdokumentation erfolgen. An unserer Klinik wird hierzu eine standardisierte Wunddokumentation vorgenommen, deren Grundlage eine gemeinsame Visite von Ärzten und Pflegepersonal ist.

Die Wundversorgung orientiert sich an den AWMF Leitlinien [1]. Bei Dekubitus Stadium I erfolgt lediglich ein steriles Abdecken mit einem nicht haftenden Verband. Im Stadium II und III (falls keine Beläge bzw. eine ausgeprägte Infektion vorhanden sind) wird eine Wundreinigung mit Kochsalzlösung durchgeführt. Ziel ist das Erhalten eines feuchten Milieus. Bei Nekrosen oder Fibrinbelägen muss eine chirurgische Abtragung durch den Arzt erfolgen, wichtig ist insbesondere das Entfernen nekrotischer "Deckel", unter denen sich anaerobe Bakterien ausbreiten können. Bei infizierten Wunden erfolgt eine Antiseptik für begrenzte Zeit, in unserem Haus wird dazu ein Octenidin-basiertes Präparat verwendet. Wenn "saubere" Wundverhältnisse entstanden sind, muss die Antiseptik jedoch abgesetzt werden, da diese Substanzen die Wundheilung empfindlich stören können. Die Anwendung von lokalen Antbiotika ist obsolet! Hinsichtlich spezieller Verbände werden an unserer Klinik sowohl Hydrokolloid- als auch hydroaktive Verbände eingesetzt. Die Vorteile von hydroaktiven Verbänden gegenüber von Hydrokolloidverbänden liegen in ihrer wesentlich besseren Absorptionsfähigkeit, seltenerem Wundexsudataustritt sowie einem leichterem Verbandwechsel.

Bei Dekubitus der Stadien III und IV ist oft eine plastisch-chirurgische Versorgung notwendig.

Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass es sich bei einem Dekubitus um einen iatrogenen Schaden handelt, d.h. die Vorbeugung und Behandlung ist nicht allein eine pflegerische, sondern auch eine ärztliche Aufgabe [6]. Hieraus erwachsen besondere Anforderungen, insbesondere an die Teamarbeit zwischen Ärzten und Pflegepersonal sowie an die Dokumentation.

Um Prävalenz und Risikomerkmale von Patienten der neurologischen Frührehabilitation herauszuarbeiten, wurde an unserer Klinik eine Querschnittserhebung vorgenommen, deren Ergebnisse im Folgenden dargestellt sind.


Ergebnisse

Durch Querschnittserhebung (Stichtag 11.04.05) wurde die Prävalenz chronischer Wunden bei Patienten der Neurologischen Frührehabilitation der Phasen B und C an der Neurologischen Klinik Hessisch Oldendorf ermittelt (Tabelle 1 [Tab. 1]). Eingeschlossen wurden Patienten der Intensivstation, zweier Intermediate Care Stationen sowie zweier peripherer Stationen. Bei einer Gesamtzahl von n=109 eingeschlossenen Patienten ließen sich bei n=10 (9,2%) chronische Wunden feststellen. Hierbei handelte es sich in fast allen Fällen (n=8) um Druckgeschwüre (überwiegend im Stadium II), in zwei Fällen lag eine Wundheilungsstörung nach Laparotomie vor. Drei der betroffenen Patienten hatten nicht nur eine, sondern zwei unterschiedliche Wunden. 8 von 10 Patienten (80%) hatten die Wunde bereits aus der Akutklinik mitgebracht, nur zwei Patienten entwickelten ihre Problemwunde in unserer Klinik. Das mittlere Alter der Patienten mit chronischen Wunden lag bei 64,9 ± 14,7 Jahren, drei waren weiblichen und sieben männlichen Geschlechts. Es handelte sich ausnahmslos um schwerst betroffene Patienten der Frührehabilitationsphase B (4 Patienten mit zerebraler Ischämie, 3 mit intrakraniellen Blutungen, 1 Patient mit hypoxischem Hirnschaden, 1 Patient nach Schädel-Hirn-Trauma und 1 Patient mit zervikalem Querschnitt), was sich auch im Frühreha-Bartel-Index widerspiegelt: Mittlerer Frühreha-Index (FRI) -210,0 ± 44,4 Punkte, Barthel-Index (BI) 2,0 ± 6,3 Punkte, Frühreha-Barthel-Gesamtindex (FRB) -208,0 ± 47,7 Punkte. Die stationäre Gesamt-Behandlungsdauer der Patienten mit chronischen Wunden betrug 52,0 ± 23,0 d, wobei 36,5 ± 13,5 d auf die Akut- und nur 14,7 ± 14,4 d auf die Rehabilitationsbehandlung entfielen. Der Unterschied zwischen Akut- und Rehabilitationsbehandlungsdauer war signifikant (T=3,23, p=0,014).


Diskussion

Chronische Wunden, zumeist Druckgeschwüre (Dekubiti), stellen in der neurologischen Frührehabilitation ein ernstes Problem dar. Während sich in der Literatur eine Prävalenz des Dekubitus zwischen 1% und 5% bei schwer betroffenen Patienten in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen darstellt, ergab sich in einer aktuellen Querschnittserhebung in unserer Klinik eine Prävalenz von 9,2% für chronische Wunden (davon n=8 Dekubiti).

Bei den Patienten mit chronischen Wunden ergab sich ein extrem hoher Betroffenheitsgrad mit einem mittleren Frühreha-Barthel-Gesamtindex (FRB) von -208,0 (± 47,7) Punkten, so dass diese Patienten ausnahmslos der Behandlungsphase B der neurologischen Frührehabilitation zuzuordnen waren. Ebenso handelte es sich fast ausschließlich um ältere Patienten (mittleres Alter ca. 65 Jahre). Dieses Ergebnis unserer Untersuchung ist mit den in der Literatur angegebenen Risikofaktoren "hohes Alter" und "neurologische Erkrankungen" mit einem hohen Betroffenheitsgrad konsistent.

Bemerkenswertes Ergebnis unserer Untersuchung war, dass die betroffenen Patienten in 80% der Fälle ihre Problemwunde bereits aus der Akutklinik mitgebracht hatten. Wenngleich in unserer Stichprobe die Behandlungsdauer im Akuthaus mit 36,5 d signifikant höher war als die bisherige Dauer der Rehabilitation in unserer Klinik (im Mittel 14,7 d), legt das Ergebnis nahe, dass die überwiegende Mehrzahl der chronischen Wunden im Akutkrankenhaus entsteht.

Wenngleich nicht jede Problemwunde vermeidbar ist, stellen geeignete Pflegestandards (allen voran eine geeignete Lagerungstechnik sowie regelmäßiger Lagerungswechsel) ein probates Mittel zur Prophylaxe chronischer Wunden dar.

In der Therapie von Dekubiti hat sich die sogenannte "feuchte Wundbehandlung", vor allem im Stadium II, bewährt. Eine lokale Antibiotikagabe ist obsolet. Allerdings ist bei infizierten oder verschmutzten Wunden eine passagere Antiseptik (mit Octenidin als Wirkstoff) erforderlich, genauso wie die vorausgehende Entfernung von Nekrosen. Der Einsatz von hydroaktiven und Hydrokolloidverbänden ist vorteilhaft für die betroffenen Patienten.

Neben einer adäquaten Prophylaxe und Therapie ist eine standardisierte Dokumentation von chronischen Wunden - nicht zuletzt aus forensischer Indikation - zwingend erforderlich.


Literatur

1.
AWMF-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation: Dekubitus-Therapie und Prophylaxe. 1999.
2.
Bienstein, C, Schröder G, Braun M, Neander KD. Dekubitus. Stuttgart: Thieme-Verlag; 1997.
3.
Goodridge DM, Sloan JA, LeDoyen YM, McKenzie JA, Knight WE, Gayari M. Risk-assessment scores, prevention strategies, and the incidence of pressure ulcers among the elderly in four Canadian health-care facilities. Canad J Nurs Res. 1998:23-44.
4.
Kierney PC, Engrav LH, Isik FF, Esselman PC. Results of 268 pressure sores in 158 patients managed jointly by plastic surgery and rehabilitation medicine. Plast Reconstr Surg. 1998:765-72.
5.
Orlando PL. Pressure ulcer management in the geriatric patient. Ann Pharmacother. 1998:1221-7.
6.
Werner GT, Eisenmenger W, Gadomski M, Goede G, Henckel-von-Donnersmarck G, Schmidt A. Der Dekubitus: Ursachen, Therapie und Prophylaxe - forensische Aspekte. Dtsch Ärztebl. 1991:3-6.