gms | German Medical Science

GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Einbecker Empfehlungen der DGMR zu aktuellen Rechtsfragen der Palliativversorgung: 16. Einbecker Workshop der DGMR im Oktober 2014

Mitteilung

Suche in Medline nach

GMS Mitt AWMF 2014;11:Doc7

doi: 10.3205/awmf000296, urn:nbn:de:0183-awmf0002968

Eingereicht: 30. Oktober 2014
Veröffentlicht: 31. Oktober 2014

© 2014 Wienke.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Gliederung

Zusammenfassung

Die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht hat vom 17. bis 19. Oktober 2014 ihren 16. Einbecker Workshop unter dem Titel "Aktuelle Rechtsfragen der Palliativversorgung" durchgeführt. Als Tagungsergebnis wurden die nachstehenden Empfehlungen verabschiedet.


Text

Aktuelle Rechtsfragen der Palliativversorgung
1.
Die Palliativversorgung in Deutschland ist mittlerweile eine im System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) fest verankerte Versorgungsform und dient in ihren stationären und ambulanten Strukturen der Versorgung der Versicherten bei nicht heilbaren, fortschreitenden Erkrankungen bei einer zugleich begrenzten Lebenserwartung. Die Aufnahme der Palliativversorgung in den Leistungskatalog der GKV und die damit verbundene solidarische Finanzierung sind zu begrüßen.
2.
Daher sollte die Palliativversorgung als eine die kurative Krankenversorgung ergänzende Versorgungsform gleichermaßen im Bereich der privaten Krankenversicherung (PKV) verankert sein. Derzeit noch bestehende Leistungs- bzw. Abrechnungslücken in der PKV sollten geschlossen werden.
3.
Palliativversorgung sollte als intermittierende Behandlung nicht nur am Lebensende, sondern frühzeitig und parallel zur kurativen Therapie einsetzen und als sektorübergreifende Versorgung den Versicherten zur Verfügung stehen. Lebenserhaltende Maßnahmen stehen einer Palliativversorgung nicht entgegen. Eine sektorale oder zeitliche Abgrenzung der verschiedenen Versorgungsformen ist dem Wesen einer notwendigen medizinischen, pflegerischen, psychosozialen und spirituellen Palliativversorgung fremd.
4.
Die in jedem Einzelfall erforderlichen ethischen Abwägungen sollten bei allen kurativen und palliativen Behandlungsmaßnahmen gewährleistet werden.
5.
Im Vordergrund derzeitiger Bemühungen um eine Weiterentwicklung des Versorgungsangebots und der Versorgungsqualität sollte die allgemeine Aufklärung und Information über die Möglichkeiten der hospizlich-palliativen Versorgung bei gleichzeitigem Auf- und Ausbau der notwendigen Strukturen stehen. Eine Neuregelung zum Themenkreis ärztlich assistierter Suizid sollte sinnvoller Weise erst nach ausreichender Umsetzung vorgenannter Voraussetzungen erfolgen.
6.
Die ärztliche und pflegerische Behandlung der Palliativpatienten sollte sich an den dazu in der medizinischen und Pflegewissenschaft etablierten und in der Praxis bewährten Behandlungsstandards orientieren. Dabei sollte wegen der eingeschränkten Möglichkeit der Einbeziehung der schwerstkranken, sterbenden Patienten in Studien auch eine niedergradige Evidenz zur Anerkennung bestimmter Verfahren ausreichen. Dies gilt in besonderem Maße für die Einführung neuer Behandlungsmethoden und die Verordnung von Fertig- und Rezepturarzneimitteln im off label und no label use.
7.
Darüber hinaus sollte auch eine für den Einzelfall maßgebliche Entscheidungsmöglichkeit und –zuständigkeit für nicht zugelassene Leistungen, Methoden und Verfahren in der Palliativversorgung in § 2 SGB V geschaffen werden.
8.
Die Vorhaltung, Anwendung und Überlassung notwendiger Arzneimittel, einschließlich Betäubungsmitteln, in Hospizen, Pflegeeinrichtungen und in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) bedarf einer rechtssicheren Normierung und Finanzierung. Zu denken ist z.B. an eine spezifizierte Vereinbarung im Sinne einer besonderen Sprechstundenbedarfsregelung.
9.
Die gesetzlich geforderte Notwendigkeit der Vorlage des Originalrezepts in der Apotheke vor Abgabe oder Auslieferung von Betäubungsmitteln an den Patienten kann zu einer unverhältnismäßigen Verzögerung und Erschwernis der erforderlichen und zeitnahen Arzneimittelanwendung führen. Daher empfiehlt es sich, in begründeten Ausnahmefällen die elektronische Übermittlung und nachträgliche Vorlage des Originalrezeptes ausreichen zu lassen.
10.
Die Durchsetzung sozialrechtlicher Leistungsansprüche von Palliativpatienten ist unter Berücksichtigung der besonderen Eilbedürftigkeit der Entscheidungsfindung zu ermöglichen. Insoweit muss für die Betroffenen ein effektiver Rechtsschutz bestehen. Dieser ist in der derzeitigen Form eines Widerspruchs- und Klagerechts nicht ausreichend gewährleistet. Es empfiehlt sich insoweit die Einrichtung einer besonderen, fachspezifisch besetzten Clearing- oder Schiedsstelle auf Landesebene, die über streitige Leistungsansprüche der Versicherten mit Wirkung für und gegen die Beteiligten ausreichend zeitnah und sofort vollziehbar entscheidet.
11.
Die Verordnung von SAPV auf Muster 63 erfolgt derzeit durch den zuständigen Vertragsarzt oder Krankenhausarzt. Diesen obliegt die Aufgabe, die Notwendigkeit der SAPV festzustellen. Der spezifische Inhalt der Palliativversorgung im Einzelfall kann dabei indes erst nach der Einschätzung des Hilfe- und Behandlungsbedarfs (sog. Assessment) durch das SAPV-Team konkretisiert werden. Aufgabe des Vertragsarztes oder Krankenhausarztes sollte daher allein die Feststellung der Notwendigkeit der SAPV sein. Die Konkretisierung des im Einzelfall notwendigen Behandlungs- und Hilfebedarfs sollte durch das vom Patienten ausgewählte SAPV-Team auf Grundlage der vom Vertragsarzt oder Krankenhausarzt ausgestellten Verordnung erfolgen. Für eine im Notfalleinsatz erforderliche und vom Notarzt veranlasste SAPV sollten ergänzende Rechtsgrundlagen geschaffen werden.
12.
Zur Wirksamkeit eines flächendeckenden, nachhaltigen palliativen Versorgungsangebotes im stationären und ambulanten Bereich empfiehlt es sich, eine verbindliche und transparente Bedarfsermittlung und Bedarfsplanung durchzuführen. Aufgrund des in der Palliativversorgung den gesetzlichen Krankenkassen zugewiesenen Sicherstellungsauftrages ist dies Aufgabe der gesetzlichen Krankenkassen. Dabei sollten die maßgeblichen Fachverbände und Selbstverwaltungskörperschaften eingebunden werden.
13.
Die vom Gesetzgeber in § 132d SGB V intendierten vertragswettbewerblichen Strukturen der SAPV haben in der Praxis zu einer unterschiedlichen, die Versorgungsqualität beeinträchtigenden Ausgestaltung der SAPV geführt. Daher sollten diese wettbewerblichen Elemente durch eine einheitliche Versorgungsstruktur abgelöst werden. Insbesondere sollten Inhalt, Strukturqualität, Vergütung, Funktion und Aufgaben der Beteiligten der SAPV in allgemeinverbindlichen Verträgen oder Richtlinien festgelegt werden. In diesem Sinne sollte z.B. die Ruf- und Einsatzbereitschaft der SAPV als alleinige Leistung anerkannt und vergütet werden.
14.
Die in der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Verordnung von SAPV vorgesehenen Versorgungsformen der Beratungsleistung, der Koordination der Versorgung, der additiv unterstützenden Teilversorgung und der vollständigen Versorgung sollten inhaltlich verbindlich konkretisiert werden, um eine einheitliche Anwendung zu gewährleisten.
15.
Im Rahmen der stationären Hospizversorgung bestehen keine überzeugenden Gründe dafür, die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen auf einen Zuschuss von 90% bzw. 95% zu beschränken. Die Notwendigkeit einer ergänzenden Spendenfinanzierung sollte daher durch eine Vollfinanzierung seitens der gesetzlichen Krankenkassen ersetzt werden.
16.
Eine Übertragung ärztlicher Leistungen an nicht-ärztliches Personal und die Einbindung der Angehörigen in die häusliche Versorgung der Patienten spielen für die Palliativversorgung naturgemäß eine zentrale Rolle. Die dabei bestehenden Unsicherheiten und engen rechtlichen Grenzen behindern indes eine sinnvolle Kooperation und Teamarbeit in der SAPV. Es empfiehlt sich daher, eine Weiterentwicklung der bestehenden gesetzlichen und berufsrechtlichen Regelungen zur Delegation und Substitution zu veranlassen, die über die Modellvorhaben des § 63 Abs. 3c SGB V hinausgehen.

Einbeck im Oktober 2014, das Präsidium der DGMR e.V.