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GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Ein Arzt darf, was er kann - auch außerhalb seines Fachgebiets: Bundesverfassungsgericht öffnet die fachärztlichen Gebietsgrenzen

Mitteilung

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GMS Mitt AWMF 2011;8:Doc9

doi: 10.3205/awmf000225, urn:nbn:de:0183-awmf0002252

Eingereicht: 14. März 2011
Veröffentlicht: 15. März 2011

© 2011 Wienke.
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Gliederung

Zusammenfassung

Der jetzt im Wortlaut bekannt gewordene Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 01.02.2011 – 1 BvR 2383/10 – wird den Inhalt und den Umfang der ärztlichen Berufsausübung zukünftig maßgeblich verändern. Einige Kommentare sprechen gar von einer Revolution des ärztlichen Weiterbildungsrechts. In einer berufsrechtlichen Entscheidung stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass Fachärzte grundsätzlich auch außerhalb ihrer durch die jeweiligen Weiterbildungsordnungen beschriebenen Fachgebietsgrenzen tätig sein dürfen. Entscheidender Qualifikationsnachweis für die Frage, in welchem Umfang und Inhalt Ärzte tätig sein dürften, sei allein die ärztliche bzw. zahnärztliche Approbation.


Text

In dem vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall ging es um einen Facharzt für MKG-Chirurgie, der neben seiner als MKG-Chirurg ausgeübten Tätigkeit in eigener Praxis auch in geringerem Umfang Schönheitsoperationen durchführte, z.B. Brustoperationen sowie Bauch- und Oberarmstraffungen. Die Ärztekammer Hamburg sowie das Hamburgische Berufsgericht und der Hamburgische Berufsgerichtshof für Heilberufe sahen in der Durchführung von Schönheitsoperationen durch den MKG-Chirurgen einen berufsrechtlichen Verstoß wegen „Fachfremdheit“ der Leistungen, da solche Leistungen dem Facharztgebiet der ästhetisch-plastischen Chirurgie zu zuordnen seien. Das Vertrauen der Patienten in die angezeigte fachärztliche Qualifikation werde getäuscht, wenn ein Facharzt für MKG-Chirurgie Schönheitsoperationen systematisch anbiete und hierfür gezielt werbe.

Die gegen diese berufsgerichtlichen Entscheidungen gerichtete Verfassungsbeschwerde war nun erfolgreich. In seinem Beschluss vom 01.02.2011 hebt das Bundesverfassungsgericht zunächst hervor, dass gesetzliche Vorgaben zur Berufsausübung grundsätzlich zulässig seien, wenn sie durch hinreichende Gründe das Gemeinwohl gerechtfertigt würden, das gewählte Mittel zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet und auch erforderlich sei und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze des Zumutbaren noch gewahrt sei. Insoweit habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Facharztbeschluss aus dem Jahre 1974 bereits entschieden, dass das Verbot der Betätigung außerhalb des Fachgebietes, da es die Berufstätigkeit des Arztes empfindlich einschränke, den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Berufsausübungsfreiheit des Artikel 12 Abs. 1 des Grundgesetzes nur gerecht werde, wenn es lediglich als allgemeine Richtlinie, die Ausnahmen vorsieht, gelte, und keine zu enge Auslegung stattfinde.

Das in den Berufungsordnungen und den Heilberufe- und Kammergesetzen der Länder niedergelegte Gebot, grundsätzlich nur in dem Gebiet tätig zu sein, dessen Gebietsbezeichnung man führt, verfolge in erster Linie den Zweck, die besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten eines Facharztes auf seinem Gebiet zu erhalten. Der Gesetzgeber verfolge mit dem Ziel, die Qualität der fachärztlichen Tätigkeit zu sichern, zudem einen Gemeinwohlbelang von hinreichendem Gewicht, welcher Einschränkungen der Berufsausübung rechtfertigen könne. Demgegenüber solle das Gebot der Gebietsbeschränkung jedoch nicht das besondere Vertrauen der Patienten schützen. Insbesondere sei aus Sicht der Patienten nicht zu befürchten, dass sie bei einer Tätigkeit außerhalb der geregelten Fachgrenzen über die Qualifikationen des jeweiligen Arztes getäuscht würden. Es sei nämlich nicht einzusehen, warum der durchschnittlich gebildete Patient annehmen sollte, ein MKG-Chirurg – also ein Arzt, dessen fachärztliche Qualifikation sich auf den Bereich des Kopfes beziehe – habe eine besondere Eignung für Operationen im Bereich des Bauch-, Oberkörper- und Armbereiches.

Der mit der berufsrechtlichen Regelung verfolgte Zweck der Beschränkung auf das Fachgebiet, nämlich die Qualität der fachärztlichen Tätigkeit zu sichern, werde nicht dadurch verschlechtert oder gefährdet, dass ein auf ein bestimmtes Fachgebiet spezialisierter Arzt daneben auch fachfremde Tätigkeiten ausübe, die im Vergleich zur spezialisierten Tätigkeit einen nur geringen Umfang ausmachten. Vielmehr sei davon auszugehen, dass die mit den berufsrechtlichen Regelungen bezweckte Schulung der das jeweilige Facharztgebiet betreffenden Fähigkeiten bereits dadurch erreicht werde, dass die fachärztliche Tätigkeit den deutlich überwiegenden Umfang der Gesamttätigkeit ausmache. Würde dies anderes gesehen, müsste die Beschränkung ausnahmslos gelten. In diesem Fall ergäben sich Wertungswidersprüche im Verhältnis zu Ärzten mit mehreren oder ohne Facharztbezeichnungen oder Medizinern, die nur in Teilzeit tätig seien.

Das Bundesverfassungsgericht hebt ferner hervor, dass insbesondere der Patientenschutz es nicht erfordere, einem bestimmten Fachgebiet zugeordnete Behandlungen nur durch Ärzte dieses Fachgebiets durchführen zu lassen. Die Qualität ärztlicher Tätigkeit werde nämlich durch die Approbation nach den Vorschriften der Bundesärzteordnung sichergestellt. Zwar habe ein Arzt in jedem Einzelfall zu prüfen, ob er auf Grund seiner Fähigkeiten und der sonstigen Umstände – wie etwa der Praxisausstattung – in der Lage sei, seinen Patienten nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu behandeln. Vorbehaltlich dieser Prüfung sei er aber, unabhängig vom Vorhandensein von Spezialisierungen, berechtigt, Patienten auf allen Gebieten, die von seiner Approbation umfasst seien, zu behandeln. Eine generelle Verpflichtung, Patienten mit Erkrankungen auf einem bestimmten Gebiet an einen für dieses Gebiet zuständigen Facharzt zu verweisen, sei hiermit nicht vereinbar. Eine solche Verpflichtung würde bei Ärzten ohne Facharzttitel dazu führen, dass diese praktisch gar nicht mehr ärztlichen tätig sein könnten, weil die fachärztlichen Bereiche das Spektrum ärztlicher Tätigkeit weitgehend abdeckten.

In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die besonderen Zulassungsvoraussetzungen zur Tätigkeit als Vertragsarzt im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bei der privatärztlichen Tätigkeit nicht vorliegen müssen. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts beziehen sich demnach ausschließlich auf die Tätigkeit außerhalb der vertragsärztlichen Versorgung. Die besonderen Regelungen des Vertragsarztrechts, insbesondere die Regelungen über die fachspezifische Zulassung von Fachärzten nach der Ärzte-Zulassungsverordnung, sehen weitere spezifische Zuordnungsregelungen vor, welche für den Bereich der GKV verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind. Diese Reglementierungen beziehen sich aber allein auf den Bereich der Versorgung gesetzlich krankenversicherter Patienten als Vertragsarzt. Außerhalb dieses reglementierten Bereichs, also im Rahmen der privatärztlichen Versorgung, gelten diese Grenzen nicht.

Die Entscheidung des Bundesfassungsgerichts wird die bisher geltenden und von den Ärztekammern als Berufsausübungsregelungen anerkannten Abgrenzungen der Fachgebiete jedenfalls im privatärztlichen Bereich zukünftig erheblich verändern. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist es im privatärztlichen Bereich den Fachärzten eines bestimmten Fachgebietes zukünftig möglich, fachfremde Tätigkeiten auszuüben, solange jedenfalls gewährleistet ist, dass die fachgebietsbezogene Tätigkeit gegenüber der fachfremden Tätigkeit überwiegt. In dem vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidenden Fall betrug der Anteil der fachfremden Tätigkeit etwa 5 %. Wie weit der Anteil fachfremder Tätigkeiten nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts generell ausgeweitet werden kann, ist bisher nicht entschieden. Nach den systematischen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts kann man jedoch davon ausgehen, dass allein die ärztliche Approbation das entscheidende Qualifikationsmerkmal für die Ausübung ärztlicher Tätigkeit ist und eine zusätzliche fachärztliche Qualifikation durch den Erwerb eines Facharzttitels eine Tätigkeit außerhalb dieses Fachgebietes nicht ausschließt. Auch die systematische Tätigkeit in einem Fachbereich außerhalb der geführten Gebietsbezeichnung ist daher zukünftig zulässig.

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist abzuwarten, ob die Ärztekammern und die Landesgesetzgeber mit einer Anpassung der Berufsordnungen bzw. der Heilberufe- bzw. Kammergesetze gegebenenfalls neue restriktivere Vorgaben bezüglich der ärztlichen Berufsausübung auch für den privatärztlichen Bereich entwickeln werden. Allerdings sind die Anforderungen hierfür gemessen an dem individuellen Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit hoch, da das Bundesverfassungsgericht zum Umfang und Inhalt der ärztlichen Tätigkeit allein auf den Erwerb der ärztlichen Approbation abstellt. Auch Ärzte ohne Fachgebietsbezeichnung müssen in der gesamten Breite der ärztlichen Berufsausübung tätig sein können. Die in den Weiterbildungsordnungen niedergelegten Abgrenzungen der Fachgebiete werden damit zukünftig erheblich weniger Gewicht für die ärztliche Berufsausübung haben. Mit seiner Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die bisher anerkannten und beabsichtigten Regelungsmechanismen des Weiterbildungsrechts erheblich relativiert.

Abschließend sei bemerkt, dass der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts auch Auswirkungen auf die Abrechnung privatärztlicher (fachfremder) Leistungen hat. Zwar ist auch die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) nach Fachgebieten gegliedert; daraus ergibt sich aber bereits nach bisherigem Verständnis keine Beschränkung für Ärzte, auch Leistungen eines anderen Fachgebietes aus einem anderen Kapital der GOÄ abzurechnen. Insoweit dürfte auch die (systematische) Abrechnung bisher als fachfremd angenommener Leistungen durch Fachärzte bestimmter Fachgebiete zukünftig zulässig sein.