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GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Gefährdung durch atmosphärische Hitzewellen

Health Problems with Extreme Heat

Bericht

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Mitteilungen aus der AWMF 2004;1:Doc35

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/awmf/2004-1/awmf000035.shtml

Veröffentlicht: 17. November 2004

© 2004 von Wichert.
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Gliederung

Zusammenfassung

Die während der Sommermonate 2003 in Europa in mehreren Ländern zu beobachtende Übersterblichkeit infolge mehrfach aufgetretener Hitzewellen, die auch für die Bundesrepublik am Beispiel von 30-jährigen Daten aus Baden-Württemberg epidemiologisch gut dokumentiert ist (Laschewski u. Jendritzky 2002, Laschewski et al. 2003), macht es erforderlich, im Bedarfsfall die Bevölkerung ursachengerecht informieren und in Zukunft ggf. vorbeugend in die Gefahrensituation eingreifen zu können.

Mit diesem Ziel hat das BMGS eine Expertengruppe der AWMF beauftragt, entsprechende Vorschläge zu unterbreiten.

Abstract

During periods of extreme heat in the summer of 2003 a rise in death rate occured in Europe, particularly in older or multimorbid people. Initiated by the German Ministry of Health and Social Services a working group of AWMF collected some measures to prevent these problems, for instance in nursing homes, and to treat these patients. The paper furthermore collects some recommendations for health systems in the case of danger of extreme heat.


Text

Die Expertengruppe hat sich auf folgende Punkte konzentriert:

1. Wetterumstände, die gefahrengeneigt sind und Beschreibung der gefährdeten Kollektive

2. Pathophysiologie der Hitzebelastung

3. Präventionsmaßnahmen und Therapie

4. abschließende Bewertung und Vorschläge für weiteres Vorgehen

Das Problem der Überwärmung bei Kleinkindern wegen der dort speziellen Gegebenheiten wurde nicht behandelt ebenso wenig wie das Problem des echten Hitzschlags (Heat stroke), da dort spezielle systementzündliche Mechanismen eine besondere Rolle spielen (Bouchama & Knochel, 2002).

Das Hauptproblem in der Bundesrepublik, wahrscheinlich auch in anderen europäischen Ländern, sieht die Kommission in der mangelnden Adaptation (Heat exhaustion) vorgeschädigter, oft älterer Menschen im Falle einer längerdauernden Hitzewelle.

Ad 1: Wetterumstände und gefährdete Kollektive

Es gibt noch keine international einheitliche Definition von Hitzewellen, in den USA wird vereinfachend ein Zeitraum von mehr als drei aufeinanderfolgenden Tagen mit einer Temperatur von mehr als 32,2° C (90° F) als Hitzewelle definiert, im Sinne der sog. „Apparent Temperature", einer Kombination aus Lufttemperatur und Feuchte. Der DWD hat ein Wärmehaushaltsmodell des Menschen entwickelt, das sämtliche thermophysiologisch relevanten Mechanismen des Wärmeaustauschs mit der Atmosphäre berücksichtigt, wie Bekleidung der Personen, Lufttemperatur, Luftfeuchte, Windgeschwindigkeit, sowie Strahlungseinflüsse im kurz- und langwelligen Bereich. Dieses Modell eignet sich hervorragend für die epidemiologische Bewertung des Einflusses der thermischen Bedingungen auf die Gesundheit des Menschen. Für praktische Belange (Warnungen für die Bevölkerung etc.) wird die operationelle Aussagekraft allerdings noch nicht ausgeschöpft.

Auf Grund der Daten des DWD, aber auch aus anderen Daten und der Literatur ergibt sich, dass nicht nur ältere Personen sondern auch andere Menschen mit eingeschränkter Anpassungsfähigkeit durch Hitze bedroht sein können, wie die Pathophysiologie lehrt. Zudem sind Vorerkrankungen wie Diabetes und Herz- und Kreislauferkrankungen, insbesondere auch Erkrankungen des zentralen Nervensystems, wie Demenz, die Notwendigkeit des Gebrauchs auf Wasserhaushalt oder Kreislauf wirkender Medikamente und Drogenkonsum (Alkohol, Koffein etc.) risikosteigernde Sachverhalte. Schließlich führen Hilfsbedürftigkeit und soziale Vereinsamung oft zur ungewollten Unterlassung kompensatorisch wirkender Maßnahmen.

Der gesunde Erwachsene ist in Europa, speziell in Mitteleuropa, bei einigermaßen normaler Lebensführung, vernünftigen Verhaltensweisen und der Möglichkeit ausreichender Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme auch durch längere Hitzeperioden nicht gefährdet.

Ad 2: Pathophysiologie

Die Steuerung des Wasser- und Volumenhaushalts des Körpers unterliegt einer äußerst komplexen Regulation, die vielfältig gestört werden kann. Unter den Bedingungen einer Hitzewelle spielt der Wassermangel, die Exsikkose, eine treibende Rolle. Auch physiologische Altersveränderungen sind beteiligt. So nimmt im Alter die Magerkörpermasse ab, der Fettanteil hingegen zu. Begleitet wird dies von einer Abnahme des Gesamtkörperwassers um etwa 10 %. Hinzu kommt eine verminderte Durstwahrnehmung (Philipps et al.1984), die gerade bei zentralen Defekten (z.B. Schlaganfall, Demenz) zusätzlich gestört ist (Miller et al.1982, Robertson 1983). Besonders problematisch ist die Komorbidität von Exsikkose und Demenz, weil es dabei auch zu einer zunehmenden Flüssigkeits-Inappetenz kommt. Es ist bislang völlig unklar, ob es sich um eine zentrale Störung handelt, die unmittelbar das Durstgefühl beeinträchtigt. Daneben scheint die hormonelle Regulation des Wasser- und Elektrolythaushaltes im Alter verändert. So unterliegt sowohl das hypothalamische Arginin-Vasopressin - antidiuretisches Hormon (AVP, ADH) als auch das Reninangiotensin-Aldosteron-System, und das atriale natriuretische Hormon physiologischen Altersveränderungen (Duggan et al.1993). Unter einem hyperosmolaren Reiz entspricht die AVP/ADH-Antwort im Ergebnis dem Syndrom einer inapropriaten ADH-Sekretion, was zu einer Wasserretention, aber auch zu einer Hyponatriämie führt (Bevilaqua et al.1987). Alle altersphysiologischen Veränderungen können jedoch nur im Zusammenwirken mit einer verminderten äußeren Zufuhr von Wasser und/oder vermehrt Wasser verbrauchenden Erkrankungen und Stoffwechselzuständen, wie Infekt, Fieber körperlicher Belastung etc. zur Exsikkose führen. Folgen der Exsikkose sind dann ein Volumenmangel im Kreislauf mit einer entsprechenden Beeinträchtigung der Kreislauffunktion und der Nierentätigkeit, die in einem Circulus vitiosus zum Zusammenbruch des Organismus führen, zumal ältere Menschen Hypohydratationszustände nur sehr schlecht kompensieren können.

Nahezu ebenso gefährdet wie durch den Flüssigkeitsmangel sind vorgeschädigte und alte Menschen durch die Versuche diesen zu beheben. Während junge Erwachsene selbst schwerste Hypohydratationszustände in kurzer Frist durch alleiniges Trinken ausgleichen können, benötigt der ältere exsikkierte Patient dafür Tage und ist bei zu schnellem Flüssigkeitsersatz, z.B. durch Infusionen, kardial und cerebral gefährdet. Durch den Schweiß verliert der erhitze Mensch Natrium, das nachgeliefert werden muss, um die Osmolalität des Blutes zu erhalten. Werden zum Flüssigkeitsersatz aber Tees oder wenig Natrium enthaltende „Mineralwässer" benutzt, wie das häufig in Pflegeeinrichtungen der Fall ist, kommt es zu einer hypotonen Hyperhydratation, mit der Folge einer Zellschwellung in den Organen, insbesondere in Hirn und Herz und nachfolgender Beeinträchtigung der Organfunktionen, die ebenso in einen Circulus vitiosus mündet wie die reine Exsikkose. Auf ausreichende Salzzufuhr ist also zu achten. Wichtig ist zu erwähnen, dass eine Exsikkose per se zu einer Temperaturerhöhung führen kann, die dann oft als Infektion missdeutet und mit Antibiotika behandelt wird, sodass die notwendige Flüssigkeitszufuhr nicht zum Einsatz kommt.

Obwohl die pathophysiologsichen Veränderungen des Wasserhaushaltes grundsätzlich bekannt sind und schon im Medizinstudium vermittelt werden, werden diese Kenntnisse in der klinischen Altersmedizin häufig nur unzureichend genutzt, da diese noch nicht häufig genug die ihr gebührende Beachtung findet.

Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Aufrechterhaltung einer normalen Flüssigkeitsbilanz bei vorgeschädigten Menschen durchaus schwierig sein kann und unter klimatischen Bedingungen, die einen erhöhten Flüssigkeitsbedarf erfordern, erhebliches Fachwissen erforderlich ist, sowohl hinsichtlich der Verhinderung einer Exsikkose wie hinsichtlich deren Beseitigung.

Ad 3: Prävention und Therapie

Der Kommission erscheint es besonders wichtig, dass die Bevölkerung gewarnt wird, wenn entsprechende Klimaentwicklungen bevorstehen, sodass dienliche Gegenmaßnahmen rechtzeitig empfohlen werden können. Der Deutsche Wetterdienst (DWD) in seinem Geschäftsfeld Medizin-Meteorologie (DWD MM) verfügt über derartige Informationen und sollte autorisiert werden, diese über die Medien verbreiten zu können, ähnlich wie es schon heute mit Unwetterwarnungen geschieht.

Die Sozialdienste sollten Hitzebelastung als Problem erkennen und bei der Betreuung gefährdeter Personen Alte Menschen, Bettlägerige, Multimorbide, Bewusstseinsgetrübte u.a.) den Sachverhalt der Gefährdung sehen.

Ausreichende Flüssigkeits- und Salzzufuhr ist unter den genannten Bedingungen unerlässlich. Hierbei kann es sinnvoll sein, im Einzelfall Bilanzen zu führen und seien sie auch nur ungefähr, um Gefahrenmomente zu erkennen. In diesem Zusammenhang ist ein Trinkplan für ältere und Heimbewohner sehr sinnvoll, da dieser Personenkreis, wie dargelegt, oft die Situation selbst nicht richtig beurteilen kann, vor allem wenn zusätzliche Krankheiten hinzutreten. Die Zusammensetzung der Nahrung inklusive der zugeführten Flüssigkeit sollte bekannt sein. Hier sind die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für ältere Personen hilfreich, insbesondere auch was die Salzzufuhr angeht. Mineralwässer, die in vielen sozialen Einrichtungen getrunken werden, enthalten häufig zu wenig Natrium, um einem Natriumverlust infolge starken Schwitzens vorbeugen zu können. Generell sollten natriumarme Getränke, wie Fruchtsäfte, Tee, Kaffee etc. nur dann eingenommen werden, wenn eine ausreichende Salzzufuhr auf anderem Wege gesichert ist. Insbesondere bei Patienten die mit Sedativa etc. therapiert werden, ist eine sorgfältige Beobachtung der Situation notwendig. Auch der Wasserverlust über die Haut (perspiratio insensibilis) steigt bei erhöhter Umgebungstemperatur erheblich an. Während die Wasserabgabe durch die Haut in „Ruhe" im gemäßigten Klima zwischen 400 und 600 ml / Tag liegt, kann sie unter „tropischen" Bedingungen auf mehrere Liter / Tag ansteigen. (Documenta Geigy, 6. Aufl. 1960). Treten Fieber und Erkrankungen hinzu, die ihrerseits Wasser verbrauchen (Diabetes mellitus, Durchfall etc.), steigt die Gefährdung erheblich.

Auf das Raumklima und die Bekleidung der Betroffenen ist zu achten, eine Aufgabe für die betreuenden Personen. Es versteht sich von selbst, dass körperliche Arbeit bzw. körperliche Aktivität unter den Bedingungen einer Hitzewelle kontraproduktiv sind und bestimmte Vorsichtsmassnahmen erfordern, wenn sie nicht zu vermeiden sein sollten.

Besondere Beachtung ist dem Medikamentenspektrum der exponierten Personen zu schenken. Diuretika, Benzodiazepine und andere Sedativa, Alkohol, ß-Blocker und sicher weitere Medikamente können die Destabilisierung des Flüssigkeitshaushaltes unter den Bedingungen einer Hitzewelle fördern.

Ist es zur Dekompensation des Systems gekommen, sind intensive medizinische Maßnahmen angezeigt, da in solchen Fällen besonders bei multimorbiden und vorgeschädigten Patienten das Flüssigkeitsgleichgewicht nur durch sehr sorgfältige Kontrollen der Vital- und Laborwerte wieder hergestellt werden kann (Kolb 1999). Eine therapeutische Überaktivität ist häufig gefährlicher als die eigentliche Exsikkose. Die o.a. hypotone Hyperhydratation ist hierfür nur ein Stichwort. Meist bedarf es etwa 3 - 5 Tage, um durch vorsichtige Infusionstherapie die Flüssigkeitsbalance wiederherzustellen. Gleichzeitig müssen die Patienten permanent zum selbstständigen Trinken aufgefordert werden. Demgegenüber haben percutane Nahrungssonden (PEG) eher Nachteile, da erfahrungsgemäß die notwendige Adaptation der Zufuhr bei Veränderungen der äußeren Bedingungen nur selten korrekt vorgenommen wird.

Ad 4: Die Kommission fasst ihre Arbeit mit den nachfolgenden Empfehlungen zusammen:

1. Es sollte ein Warnsystem eingerichtet werden, das vor gefährlichen Hitzewellen warnt und es damit ermöglicht, dass sich die Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens auf die drohenden Gefahren einstellen können und die Öffentlichkeit ebenfalls gewarnt ist. Der Deutsche Wetterdienst verfügt über die entsprechende Expertise, müsste mit dieser Aufgabe aber spezifisch betraut werden.

2. In solch einem Fall sollten die Gesundheitsbehörden der Länder und Kreise die entsprechenden Einrichtungen informieren, damit diese sich auf die Situation rechtzeitig vorbereiten können.

3. Die Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialsystems sollten über spezielle Kenntnisse in der Prävention und Therapie von Hitzeschäden verfügen, z.B. durch entsprechende Informationsblätter der Gesundheitsbehörden, oder spezifische Weiterbildung. Die Einrichtung eines „Klimatelefons" bei den Kreisgesundheitsämtern und die Information der Medien erscheint sinnvoll.

4. Es sollte erreicht werden, dass „Hitze" als ein echtes Gefährdungspotential für alte Menschen, vorerkrankte, multimorbide und gebrechliche Personen angesehen wird. „Hitzetote" oder „Todesfälle durch Exsikkose" sollten als solche im Totenschein deklariert werden, und die Todesursache als „ungeklärt" deklariert werden (ICD 10: E86, X59.9! ).

5. Es handelt sich bei dem Problem der Gesundheitsgefährdung durch Hitze nicht um unerforschte oder neue medizinische Felder. Die Kenntnisse zur Störung des Flüssigkeitshaushaltes liegen umfangreich vor und müssen nur zur Anwendung kommen.

In diesem Bericht zitierte Literatur:

- Laschewski G, Jendritzky G, Effects of the thermal environment on human health, Clim Res 2002, 21, 91 -103

- Laschewski G, Koppe C, Jendritzky G, Klimawandel und Gesundheit in Mitteleuropa, Umwelt, Med, Gesellschaft 2003, 1, 13 - 18

- Bouchama A, Knochel J P, Heat Stroke, N Engl J Med 2002,346,1978 -1988

- Philipps P A, Rolls B J, Ledingham J G G, Redced thirst after water deprivation in healthy elderly men, N Engl J Med 1984, 753 - 756

- Miller P D, Krebs R A, Neal B J, McIntyre D O, Hypodipsia in geriatric patients, Amer J Med 1982, 73, 354 - 356

- Robertson G L, Thirst and vasopressin function in normal and disordered states of water balance, J Lab Clin Med 1983, 101, 352 - 371

- Duggan J, Kilfeather S, Lightman S L, The association of age with plasma arginine vasopressin and plasma osmolality, Ageing 1993, 22, 332 - 336

- Bevilaqua M, Norbiato G, Chebat E, Osmotic and nonosmotic control of vasopressin release in the elderly: effect of metoclopramide, J Clin Endocrin Metab 1987, 54, 1243 - 1247

- Kolb G, Notfälle und Akutkomplikationen in der Geriatrie, Notfallmedizin 1999, 432 - 437

Weitere einschlägige Literatur:

National Center for Environmental Health (CDC), Extreme Heat, http://www.cdc.gov/nceh/hsb/extremeheat/

Deutsche Gesellschaft für Ernährung, http://www.dge.de

Deutscher Wetterdienst, http://www.dwd.de

Für die Kommission:

Prof. Dr. med. P. von Wichert, emer. Direktor der Med. Poliklinik der Philipps Universität Marburg,

Eppendorfer Landstr. 14, 20249 Hamburg

Mitglieder der Kommission:

Prof. Dr. med. B. Brinkmann, Münster; Prof. Dr. med. R. Dudziak, Frankfurt/Main; Prof. Dr. med. G. Jendritzky, Freiburg; Prof. Dr. med. G. Kolb, Lingen